In der Ukraine entscheidet sich die Zukunft der Weltordnung

Von Dr. Rudolf G. Adam

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Mussolini überfiel 1935 Äthiopien. Hitler überfiel 1938 die Tschechoslowakei, ein Jahr später Polen, um „Lebensraum im Osten“ zu gewinnen, zwei Jahre später überfiel er die Sowjetunion mit dem Ziel, die Ukraine für ein deutsches „Ingermanland“ und „Gotenland“ zu annektieren. Diese Tradition gewaltsamer Landnahme ist mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wiederaufgelebt. Sie wurde bekräftigt durch die Annexion von vier ukrainischen Provinzen (die nicht einmal vollständig von Russland kontrolliert werden) und durch die bereits 2014 vollzogene Annexion der Krim. Nicht nur die Kriegsziele sind ähnlich; auch die brutalen Grausamkeiten der Besatzungstruppen lassen Bilder von vor 80 Jahren wieder aufleben. Die bloodlands (T. Snyder) bluten wieder!

Putin will diese Gebiete russifizieren, der restlichen Ukraine spricht er Staatlichkeit und Existenzberechtigung ab, die Regierung in Kyiv denunziert er als Bande von „Faschisten“ oder „Nazis“. Die russische Propaganda läuft auf Hochtouren. Sendungen mit Wladimir Solowjow, Dmitri Kisseljow oder Margarita Simonjan stehen dem, was vor 80 Jahren im Völkischen Beobachter zu lesen war, in nichts nach; offizielle Äußerungen russischer Politiker (Putin, Lawrow, Medwedew) triefen von Hass, Ressentiments und einer kruden Mischung aus Paranoia und Nationalchauvinismus. Die Parallelen zwischen der heutigen Führung Russlands und faschistischen Diktaturen des vorigen Jahrhunderts werden immer beklemmender. Wer George Orwells 1984 noch einmal zur Hand nimmt, erkennt darin mit Schaudern einen Spiegel heutiger Realitäten.

Es geht längst nicht mehr um die Zukunft der Ukraine. Auf dem Spiel stehen die Grundlagen der internationalen Rechtsordnung, der globalen Sicherheit, der Geopolitik, des Kriegsrechts und humanitärer Grundsätze:

  • Der Angriffskrieg und die Annexionen widersprechen der Charta der Vereinten Nationen, der Charta von Paris und bilateralen Vertragsverpflichtungen zwischen Russland und der Ukraine.
  • Die wiederholten Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen untergraben die negativen Sicherheitsgarantien, in denen die Nuklearmächte zusichern, dass sie Atomwaffen nicht gegen Nicht-Nuklearwaffenstaaten einsetzen werden. Damit droht alles, was an nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung erreicht worden ist, verloren zu gehen; das Nichtverbreitungsregime wankt. Die Ukraine war 1991 die drittgrößte Nuklearmacht der Welt. Sie hat alle diese Waffen freiwillig Russland ausgeliefert. Zwanzig Jahre später überfällt Russland die Ukraine, weitere acht Jahre später sucht Russland die Ukraine auszulöschen. Die Lektion kann nur heißen: Wer Nuklearwaffen hat, sollte sie niemals hergeben; wer keine hat, sollte sie sich als Rückversicherung beschaffen!
  • Russland ist ohne die Ukraine eine Regionalmacht; mit der Ukraine ist es ein Imperium mit weiterreichenden Ambitionen (Zbigniew Brzeziński).
  • Russland beschießt wahllose zivile Ziele, setzt geächtete Streumunition ein, lässt seine Soldateska ungestraft foltern, morden, plündern, vergewaltigen, stehlen. Es verstößt damit gegen sämtliche Grundsätze einer humanitären Kriegsführung und einer Verschonung ziviler Ziele.

Dr. Rudolf G. Adam

Senior Consultant, Berlin Global Advisors GmbH; Präsident a.D., Bundesakademie für Sicherheitspolitik; Vize-Präsident a.D., Bundesnachrichtendienst; Präsident, CSASC; Prien, Chiemsee, Germany.

Putin hat Ende September seinen Einsatz drastisch erhöht: Er hat mit der Mobilmachung eingeräumt, dass sich das, was er zunächst als „militärische Spezialoperation“ verharmloste, zu einem schweren Krieg ausgeweitet hat. Mit der Annexion hat er nicht nur die Brücken zu einer Verständigung mit der Ukraine und dem Westen, sondern auch für den eigenen Rückzug abgebrochen.

Putin zeige Schwäche, stehe mit dem Rücken zur Wand, habe keine Optionen mehr, heißt es halb mit Schadenfreude, halb mit euphorischer Zuversicht. Kriege werden jedoch nicht durch einzelne Schlachten entschieden, das unbeständigste Glück ist das Kriegsglück. Putin hat noch Reserven, die er mobilisieren kann. Den Verlust an Optionen hat er selbst mutwillig herbeigeführt. Statt sein Scheitern zu proklamieren, wäre es angebrachter sich zu fragen, wie er reagieren wird, wenn er in die Enge getrieben ist. Er selbst hat in einer Autobiographie berichtet, wie er als Jugendlicher in Leningrad ein Ratte gejagt und in eine Ecke getrieben habe; plötzlich habe die fliehende Ratte Kehrt gemacht, ihn angesprungen und versucht, ihm ins Gesicht zu beißen. Es kommt nicht darauf an, was wir für rational halten, sondern was in der Weltsicht Putins als rational erscheint.

Und was könnte nach Putin kommen? Die Möglichkeiten reichen von einem noch härteren Nationalchauvinisten zu einer Periode anhaltender interner Machtkämpfe, einem Bürgerkrieg bis hin zum Staatszerfall. Dass ein neuer Gorbatschow Russland aus dieser Sackgasse befreien wird, erscheint unter diesen Möglichkeiten als die unwahrscheinlichste.

Was Putins strategische Ziele sind, bleibt unklar. Das größte Flächenland der Erde braucht keinen zusätzlichen Lebensraum. Die Mär von einer bedrohten Sicherheit durch die Ukraine oder die NATO hat Russland selbst widerlegt. Wenn die NATO tatsächlich darauf aus wäre, Russland zu vernichten, hätte sie dessen gegenwärtige Schwächung längst ausgenutzt. Dass Russland Soldaten von seinen Grenzen zu NATO-Staaten abzieht, belegt, dass Putin seine eigene Mär selbst nie geglaubt hat. Die eindrucksvollsten Bilder dieses Kriegs zeigen ukrainische Soldaten, die in akzentfreiem Russisch Putin und sein Russland zum Teufel wünschen. Bisher hat Russland wenig Kollaborateure gefunden: Die meisten Funktionäre der zivilen Verwaltung in den besetzten Gebieten müssen aus Russland importiert werden.

Russland versucht, den Westen mit atomaren Drohungen einzuschüchtern. Bisher basiert der Umgang zwischen Nuklearwaffenstaaten auf gegenseitiger Abschreckung. Sie bietet jedoch keine Versicherung gegen einen Ersteinsatz, schon gar nicht gegen den Einsatzbefehl eines irrationalen Politikers. Sie bietet hingegen um so mehr Aussicht auf Sicherheit, je weniger Zweifel daran gelassen werden, dass ein Nukleareinsatz sofort und unabwendbar Reaktionen auslösen wird, die dem Angreifer inakzeptable Verluste zufügen. Wer nuklearer Erpressung nachgibt, kann nur verlieren.

Putin sieht die letzten hundert Jahre grundsätzlich anders als wir. Deshalb werden seine Vorstellungen für die nächsten hundert Jahre mit unseren Werten unvereinbar bleiben. Putin glaubt: Wer die Macht über die Vergangenheit hat, gewinnt sie auch über Gegenwart und Zukunft.

Dieser Krieg wird sich lange hinziehen. Der Winter wird die Entschlossenheit beider Seiten auf eine harte Probe stellen. 2024 wird es in den USA und in Russland Präsidentschaftswahlen geben. Sie werden im Zeichen des Kriegsverlaufs stehen (es sei denn, Putin bläst die Wahlen im Hinblick auf die Konfliktsituation ab).

Der Korridor, der zum Ende der Kampfhandlungen und zu einer Verständigung über eine neue Friedensordnung führt, wird schmaler und länger. Was heute als wahrscheinlich erscheint, ist deprimierend: Russland wird sich unter Putin in selbstgewählte, nationalistische Isolation zurückziehen. Die kommunistische Ideologie konnte immerhin internationale Attraktivität entfalten. Die Glorifizierung einer russkij mir (Russische Welt) wird außerhalb Russlands wenig Anklang finden. Selbst Weißrussland zeigt sich zurückhaltend. Russland droht eine schleichende „Nordkoreanisierung“.

Auch wenn Russland mit seinen Eroberungsplänen scheitern sollte, behält es die Option, Wiederaufbauansätze zu behindern und der Ukraine Belastungen aufzubürden, die auf die Dauer zermürbend wirken. Russland kann die Ukraine nicht niederringen; aber es kann ihr ständige Nadelstiche versetzen, sie sozusagen „in den Schwitzkasten“ nehmen. Russland könnte weiterhin wahllos Ziele in der Ukraine beschießen, Sabotageakte unternehmen, kritische Infrastruktur lahmlegen und die Schifffahrt auf dem Schwarzen Meer behindern. Der Ukraine droht eine schleichende „Palästinisierung“.

Eine gegenseitig respektierte Grenzziehung ist nach den Annexionen vom 30. September kaum noch vorstellbar. Dem Konflikt droht eine „Kaschmirisierung“. Im Kaschmir stehen sich 75 Jahre nach der Trennung Pakistans von Indien die Truppen beider Staaten immer noch unversöhnlich gegenüber. Seither hat es vier Kriege gegeben. 1999 führte der Konflikt bis hart an die Schwelle eines Nukleareinsatzes.

Wie immer die faktischen Grenzen einer Restukraine künftig aussehen mögen: sie wird sich dem westlichen Wirtschaftsraum und westlichen Sicherheitsstrukturen anschließen. Faktisch wird die Ukraine Teil des westlichen Sicherheitsraums bleiben müssen, wenn sie überleben will. Eine Neutralität, die vor dem 24. Februar noch denkbar war, ist vom Tisch. Putin hat aus einem „Brudervolk“ auf Generationen einen Nachbarn voller böser Erinnerungen, voller Angst, Misstrauen und Ressentiments gemacht.

Die Zukunft der Ukraine hängt davon ab, wie weit der Westen sie in diesem harten, langen, opferreichen Abwehrkampf und in ihrem Selbstbehauptungswillen stützen und schützen will. Deshalb hängt die Zukunft der internationalen Friedensordnung auch von unserer Entschlossenheit ab, sie zu verteidigen – selbst wenn dies auch von uns Opfer verlangen sollte.