Wirtschaftspolitische Prioritäten für die neue Bundesregierung ab Herbst 2021 – graduelle Änderung oder grundlegender Kurswechsel erforderlich?“

Ab Herbst 2021 wird Deutschland eine neue Bundesregierung haben, die sich mit innovativen Lösungsansätzen den sozioökonomischen Problemen unserer Zeit stellen muss. Zu diesen gehören unter anderem Überalterung, eine teils ungeeignete Einkommensbesteuerung und Digitalisierung. Über diese und andere Themen diskutierten am 18. Mai 2021 Dr. Daniel Stelter, Gründer des auf Strategie und Makroökonomie spezialisierten Forums beyond the obvious, und Professor Dr. Achim Truger, Professor für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen und Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Moderiert wurde die Diskussion von Professor Dr. Henrik Müller, Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der TU Dortmund. Auf Seiten von Global Bridges nahmen Dr. Beate Lindemann und Dr. Hans Albrecht, respektive die Geschäftsführende Vorsitzende und der Vorsitzende des Vorstands, sowie mehr als 50 Mitglieder des Vereins teil.

Nach einer kurzen Begrüßung durch Dr. Lindemann gab Professor Müller eine kurze Einführung in das Thema. Die verschiedenen Auffassungen, was eine solide Wirtschaftspolitik ausmache, seien durch die neoliberale, angebotsorientierte Anschauung Stelters und die makroökonomische und staatliche Intervention favorisierende Anschauung Trugers bedingt. Man müsse sich aber zuallererst darauf einigen, was die Probleme seien, bevor man Lösungsansätze diskutieren könne.

Dr. Stelter widersprach zu Beginn seines Eingangsstatements Professor Müller und stellte klar, dass er nicht neoliberal sei und sich auch keinen schwachen Staat wünsche, sondern einen starken. Er stellte jedoch fest, dass ein starker Staat nicht unbedingt ein großer Staat sein müsse. Außerdem merkte er an, dass Professor Truger und er in vielen Punkten einer Meinung seien, es also auch Gemeinsamkeiten gebe. Er plädierte für einen radikalen „Neustart“ in vielerlei Hinsicht, aber insbesondere im Bezug auf den Fiskus.

Dr. Stelter identifizierte mangelnde Investitionen im Inland sowie schlechte Investitionen im Ausland als große Probleme. Aufgrund der stabilen wirtschaftlichen Lage sei die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren gewachsen und außerdem exportorientierter geworden. Dies könne man jedoch nicht der Politik anrechnen, die Misswirtschaft mit den daraus erlangten staatlichen Geldern getrieben habe. Man müsse den Staat professioneller verwalten und doppelte Buchführung fördern, um klare Eindrücke über die Probleme zu erhalten. Das nächste Problem sei Überalterung und die daraus resultierende, immer kleiner werdende Zahl an Erwerbstätigen verglichen mit Rentnern. Mögliche Lösungsansätze, wie eine geringe Erhöhung der Arbeitszeiten und eine größere Mobilisierung, könnten seiner Meinung nach relativ einfach umgesetzt werden. Zum Thema Klimaneustart merkte er an, dass Deutschland, im Gegensatz zu Ländern wie Großbritannien, einen ineffektiven Weg für den Kohleausstieg gewählt habe, da es Milliarden an Steuergeldern ausgebe, anstatt den Ausstieg über CO2-Zertifikate zu regeln.

Zu der ungleichen Vermögensverteilung in Deutschland sagte Stelter, dass das Problem keineswegs der große Wohlstand der reichen Bevölkerung, sondern der fehlende Wohlstand der Ärmeren sei, da die Reichen im Vergleich zu anderen EU-Ländern nicht mehr Geld hätten. Er plädierte für Maßnahmen zur Vermögensbildung, wie geringere Steuerbelastungen für die ärmere Bevölkerung und eine Vereinfachung des Eigentumserwerbs. Die Steuerkurve müsse steiler gestaltet werden, damit eine effektive Vermögensumverteilung stattfinden kann. Außerdem betonte er, dass es sich immer lohnen müsse, mehr zu arbeiten, was zurzeit teilweise nicht der Fall sei.

Die aus seiner Sicht unumgänglichen Schulden im Zuge der Coronakrise sollte der Staat außerdem nutzen, um einen Rentenfonds nach norwegischem Vorbild einzurichten. Dieser sollte jeweils €25.000 an jeden Rentner, der mindestens 10 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat, bei seinem Arbeitsende auszahlen und sollte außerdem dazu benutzt werden können, Nullzinskredite zum Eigentumserwerb zu geben.

Professor Truger dankte zu Beginn seiner Antwort Dr. Lindemann und Global Bridges für die Einladung und zeigte sich gespannt auf die weitere Diskussion. Er widersprach Dr. Stelter im Hinblick auf den „Neustart“ und plädierte für eine schrittweise stattfindende Veränderung anstelle eines radikalen Schnittes, da man mit der vorherrschenden Wirtschaftsform gut durch die letzten Jahrzehnte gekommen sei. An den Vorschlägen Stelters sei viel Wahres, es fehle ihm aber an Kostenaufstellungen und konkreten Plänen, wie das Ganze umzusetzen sei. Er merkte auch an, dass Stelter sich deutlich zum Neoliberalismus hin bewege, der zwar vor zwanzig Jahren zum ökonomischen Mainstream gehörte, aber seit der Finanzkrise von 2007 und der darauf folgenden Eurokrise in Verruf geraten sei. Dies sei bedingt dadurch, dass die Schwächung der Arbeitnehmer und des Sozialstaats, umfassende Privatisierung und geringe Gewerbesteuern nicht nur ökonomisch nicht umsetzbar seien: In einer demokratischen Gesellschaft seien Maßnahmen, die großen Teilen der Bevölkerung zu Lasten fallen, nicht mehrheitsfähig.

In Bezug auf Herausforderungen wie die Digitalisierung und den umweltfreundlichen Umbau der deutschen Wirtschaft sagte Truger, dass der Staat eine starke Rolle spielen müsse und man nicht auf die Selbstregulierung des Marktes in diesen Punkten vertrauen dürfe. Auch in die Bildungsgerechtigkeit, die für ihn ein wichtiger Punkt sei, müsse massiv investiert werden, da die Lösung gesellschaftlicher Probleme nicht durch Deregulierung dem Markt überlassen werden dürfen.

Die Angst vor Staatverschuldung dürfe weiterhin kein Grund sein, bei der Bewältigung der Coronakrise und der Lösung jener großen gesellschaftlichen Probleme zu früh zur schwarzen Null zurückzukommen. Geld, und damit eine gewisse Verschuldung des Staates, werde benötigt, um weiterhin wirtschaftlich zu wachsen. Dabei müsse mit den europäischen Partnern eng zusammengearbeitet werden. Auch habe die Krise gezeigt, dass die fortschreitende europäische Integration essenziell sei, allein wegen der internationalen Lieferketten Deutschlands, die während der Krise stark gelitten hätten, während große Teile der Wirtschaft durch den starken Fokus auf den Exporthandel wenig von der Krise mitbekommen hätten. Des Weiteren sei der EU-Wiederaufbaufonds ein positives Zeichen dafür, dass die EU in der Lage sei, in Krisensituationen zusammenzuhalten und sinnvolle Beschlüsse zu fassen. Die EU müsse bessere, EU-übergreifende Fiskalpolitik betreiben, auch um Unstimmigkeiten zwischen den einzelnen Mitgliederstaaten auszuräumen. Zum Beispiel habe man in Deutschland viel Außenpolitik vom Finanzamt diktieren lassen, was zu Unstimmigkeiten mit anderen EU-Staaten geführt habe.

Im Anschluss an Professor Trugers Vortrag warf Dr. Hans Albrecht ein, dass der Staat in großem Stil Misswirtschaft betreibe und insgesamt nicht professionell agiere. Professor Truger antwortete, dass es zwar Probleme gebe und gegeben habe, auch in Bezug auf die Coronakrise, die Verantwortlichen in der Politik jedoch ihr Möglichstes getan hätten und Teile des Problems auf die Privatwirtschaft zurückgingen. Im Großen und Ganzen habe der Staat richtig agiert.

Dr. Stelter merkte an, dass der gemeinsam geplante europäische Schuldenfonds zwar nichts anderes als ein „Endlager für Schulden“ sei, die nie zurückgezahlt würden, das Projekt aber durchaus die Möglichkeit biete, die deutsche Staatsverschuldung auf Null zurückzudrehen und dadurch Möglichkeiten zur neuerlichen Schuldenaufnahme zur Investition, z.B. in Bildung, eröffne. Die Investitionen der letzten Jahre seien nicht für Infrastruktur oder Bildung ausgegeben worden, sondern wurden teilweise sine effectu für Renten, Migration und die Energiewende verwendet. Er kritisierte außerdem die Scheinheiligkeit von CDU- und SPD-Politikern, die nun davon reden würden, Deutschland zu sanieren, obwohl sie in den letzten Jahrzehnten in der Regierungsverantwortung gewesen seien.

Auf die Frage eines Teilnehmers, an welchen Indikatoren man den Erfolg der vorgeschlagenen Investitionen messen könnte, antwortete Stelter, dass man zum Beispiel den „World Happiness Report“, zu Deutsch Glücksindex, benutzen könne. Auch merkte er an, dass Deutschland zwar im internationalen Vergleich relativ gut dastehe, es aber einerseits viele Länder gebe, von denen Deutschland lernen könne, andererseits Deutschland nicht für die Umwälzungen der Zukunft bereit sei und insgesamt wenig zukunftsorientiert denke und handle. Als Beispiel dafür nannte er die hohen Zahlen von Schulabbrechern und nicht Berufsausgebildeten. Deutschland bilde seine immer kleiner werdende erwerbstätige Bevölkerung nicht gut genug aus, und dadurch werde die Rente der immer größer werdenden Gruppe der Rentner nicht genügend abgesichert. Im internationalen Vergleich gebe es hier durchaus Länder, die bessergestellt seien als Deutschland, wie z.B. die nordischen Länder, in denen es zwar Ungleichheit gebe, die Rente der Erwerbstätigen jedoch gesichert sei.

Auf die Frage, was passieren würde, wenn Deutschland nicht mehr zur Verschuldungskapazität der EU beisteuern könnte, antwortete Dr. Stelter, dass der Euro wahrscheinlich nicht wegen der Frage der Schuldentragfähigkeit enden würde. Er werde eher ein politisch bedingtes Ende finden, wenn z.B. Italien seine Finanzpolitik nicht mehr von der EU abhängig machen möchte oder die Niederländer nach der Einrichtung der Transferunion nicht mehr Geldgeber spielen möchten. Das werde aber, wenn überhaupt, erst in den 2030er Jahren geschehen.

Im Anschluss monierte Dr. Albrecht die Geldpolitik der EZB, die durch Gelddruckerei die Sparkonten der deutschen Bevölkerung und die TARGET2-Konten der EU, in die Deutschland mit Abstand am meisten einzahle, entwerte. Er plädierte für eine bessere Verwendung des Geldes, das angelegt werden müsse, anstelle es in „Wahlgeschenke“ wie die Mütterrente zu stecken. Auch würde der Wiederaufbaufonds in Ländern wie Italien von mafiösen Strukturen ausgenutzt, die auf unredliche Weise Kredite in die eigene Tasche wandern lassen würden. Professor Truger bemerkte an dieser Stelle, dass die Inflationsrate zwar in der letzten Zeit gestiegen sei, davor aber zu niedrig gewesen sei. Er verwies außerdem auf ein Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der zufolge die aktuelle Inflationsrate bald wieder sinken werde. Dr. Stelter hingegen prognostizierte eine Rückkehr der strukturellen Inflation als Folge der demografischen Entwicklung und der kommenden, massiven Investitionen in die Energiewende.

Ein Teilnehmer stellte daraufhin die Frage, warum hohe Posten in der EU in den letzten Jahren fast ausschließlich mit Franzosen besetzt wurden, so zum Beispiel die des Ratspräsidenten und der EZB-Präsidentin. Ein weiterer Teilnehmer antwortete, dass die deutsche Zurückhaltung in solchen Fragen dem Image Deutschlands innerhalb der EU sehr geholfen habe, was in starkem Gegensatz zu der deutschen Politik in den Jahren vor und während des Zweiten Weltkrieges stehe, in der sich die Deutschen unbeliebt gemacht hätten. Wenn Deutschland sich ständig profilieren würde, würde es große Unruhe in der EU geben, was Deutschland letztlich schaden würde.

Professor Truger und Dr. Stelter waren beide der Meinung, dass der Euro aufgrund der Nichtstaatlichkeit der EU und den deswegen nur sehr beschränkt umsetzbaren geldpolitischen Maßnahmen verschiedene Probleme habe. Stelter ging darauf noch weiter ein, indem er sagte, während Deutschland höhere Steuern erhebe, um seinen relativ geringen Schuldenstand noch weiter zu senken, gebe es viele Staaten in der EU, die sich mit deutlich höheren Schulden weiterhin hoch verschulden. Man müsse also auch mehr Schulden aufnehmen und nicht die Steuern erhöhen, damit die wohlhabende Bevölkerung Deutschlands nicht in andere EU-Länder umzieht, um dort einen deutlich geringeren Steuersatz zu bezahlen. Der geplante Schuldentilgungsfonds, bei dem die Staatsschulden der einzelnen Länder an die EU selbst weitergeschoben werden, sei ein guter Weg, um mit einer nun stark gesunkenen Schuldenlast neue Schulden aufzunehmen und unter anderem den schon erwähnten Rentenfonds nach norwegischem Vorbild aufzusetzen. Dies sei der beste Weg, um Wohlstand für die deutsche Bevölkerung zu schaffen und die Probleme der Zukunft anzugehen.

Der von einem Teilnehmer angesprochene Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands wurde gleichermaßen von Dr. Stelter und Professor Truger kritisiert, wobei Dr. Stelter dafür plädierte, Anreize zu schaffen, um mehr Geld im Inland zu investieren, mit dem Ziel, den Überschuss auszugleichen.

Am Ende der Diskussion dankten Professor Müller und Dr. Lindemann den Anwesenden für ihre Teilnahme.