11. September 2001. Zwei Flugzeuge schlagen in die New Yorker Twin Towers ein. Als Operations-Vorstand bei Lufthansa Passage war ich damals verantwortlich für mehr als 20.000 Mitarbeiter. Die Nachfrage im Luftverkehr brach schlagartig ein, um fast ein Drittel. Wir haben das ohne Entlassungen durchgestanden – dank Leih- und Zeitarbeit, Saisonarbeit, befristeter Beschäftigung, Kurzarbeit und rund 140 flexiblen Arbeitszeitmodellen.
Ein paar Jahre später als Personalvorstand beim Automobilzulieferer Continental: Die Stundenlöhne in Osteuropa betrugen nur ein Zehntel des in Deutschland Üblichen. Ohne Flexibilität stände heute keines unserer Reifenwerke mehr auf deutschem Boden. Leih- und Zeitarbeit, Arbeitszeitkonten, Befristung, Outsourcing und Werkverträge haben unsere „atmenden Fabriken“ wettbewerbsfähig gehalten. „Old Business“ lebt und überlebt in schwierigen Zeiten durch Flexibilität, Kundenfokus und Kosteneffizienz.
Und gleichzeitig forderten unsere New-Tech-Entwicklungsingenieure in Markdorf am Bodensee zum Ärger der IG Metall die Freiheit, bei gutem Wetter nachmittags zu segeln und abends zuhause am PC zu arbeiten: Vertrauensarbeitszeit und -ort für Hunderte Techies. Und 2009 bei der Telekom mussten wir einzelvertraglich die von 85 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Innovationsbereichen geforderte Arbeitszeit- und Arbeitsortsouveränität gegen den Widerstand der Ver.di durchsetzen.
Es gibt nicht viele Politiker und Politikerinnen, die so wie ich nach 40 Jahren Wirtschaft Schlüsselerfahrungen aus „Old Business“ wie auch „New Tech“ in die Politik tragen und Brücken zwischen beiden Welten schlagen. Denn eines ist klar: Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne Wirtschaft ist alles nichts. Nur so kann ein Sozialstaat überhaupt finanziert werden, nur so kann Wohlstand für kommende Generationen ermöglicht werden.
Thomas Sattelberger, MdB ist Fachpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion für Innovation, Bildung und Forschung. Zuvor war er Personalvorstand von Continental und der Deutschen Telekom.
In der Welt der Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Vor 50 Jahren war Wandel noch eher die Ausnahme und abfederbar durch Lagerhaltung und Notstromaggregate. Heute wären wir froh, hätte Deutschland ausreichend Schutzmasken für eine Pandemie auf Lager gehabt und genügend Impfstoff-Produktionskapazitäten.
Ab den 1990er Jahren wurde der Wandel zum ständigen Begleiter: Fusionen und Übernahmen, Outsourcing, Offshoring nach Osteuropa und Asien, Leih- und Zeitarbeit – sozusagen die „atmende Unternehmung“. Und heutzutage wird Wandel auch zunehmend disruptiv. Er wälzt Märkte um samt ihren ehemals ehernen Gesetzmäßigkeiten und erschüttert Branchen, Geschäftsmodelle und Wirtschaftskulturen. Dafür sorgen nicht nur Amazon & Co, sondern auch Covid-19.
Jetzt sprechen wir angesichts von Internetmonopolen, zerbrechlicher globaler Wertschöpfungsketten und disruptiver Ereignisse von technologischer Souveränität auf systemkritischen Feldern.
Corona beschleunigt dabei in Geschäfts- wie Arbeitswelten die Entwicklung zur Low-Touch-Ökonomie – egal, ob durch digitale Bezahlsysteme, Online-Handel, Roboterisierung der Produktion oder durch Home Office, mobile Arbeit und digitales Freelancertum.
Dabei ist unsere deutsche Wirtschaft längst in eine schwierige strategische Position geraten zwischen der Bürokratie-Regulatorik für die alte Industriewelt, den Souveränitätsansprüchen der neuen Klasse der Kreativ- und Wissensarbeit sowie dem globalen Innovationsdruck. Betroffen sind nicht nur große Ozeandampfer, sondern zunehmend mittelständische Unternehmen, häufig im ländlichen Raum. Viele müssen sich von Grund auf neu aufstellen, um in der digitalen Welt bestehen zu können. Sie müssen neben der Effizienz ihrer etablierten Geschäfte und der Qualität ihrer Produkte Experimentierfelder für neue Geschäfte schaffen. Und dies mit neuen Fähigkeiten.
Für solche Transformationaufgaben benötigen sie Start-ups, Nerds, kosmopolitisch denkende Software-Entwickler, leidenschaftliche Techies. Doch die wollen meist weder eine Festanstellung noch dauerhaft aufs Land. Sie lieben Unabhängigkeit, Freiraum und den richtigen Mix aus mobiler und ortsgebundener Arbeit. Solche Freiheiten geraten derzeit pauschal unters Rad, weil Hubertus Heil & Co. die Selbständigkeit ausmerzen wollen: Freelancertum als Kollateralschaden des berechtigten Adressierens menschenunwürdiger Arbeitspraktiken in Schlachtereien und Speditionen.
Damit das klar ist: Wer auf der Baustelle, im Supermarkt oder am Fließband tätig ist, soll weder Schutzrechte verlieren noch durch die Hintertür länger arbeiten. Aber wer der Wissens- und Kreativarbeit – egal ob Freelancern oder betrieblichen Wissensarbeitern – das Korsett „industrieller Normalarbeit“ anlegt, schneidet sich in der Ära der Digitalisierung ins eigene Fleisch.
Im Kern geht es um neue politische Rahmenbedingungen für Arbeit:
- Die Modernisierung des Arbeitszeitgesetzes für mobile und digitale Arbeit: Öffnungsklauseln oder Freiheiten, um selbstverantwortlich Arbeitszeit und Arbeitsort festzulegen oder auf Augenhöhe zu vereinbaren.
- Damit gekoppelt die Abkehr vom sogenannten Normalmodell der Arbeitszeit – der Fünf-Tage- Woche mit 7-, 71⁄2-, 8-Stunden-Tag und sogenannten elfstündigen Mindestruhezeiten – und dafür die flexible Vereinbarung von Arbeitszeit im Rahmen eines Wochen- oder Monatskontingents.
- Arbeitsstättenverordnung und Arbeitsschutzregeln, die
- die weite Verbreitung mobiler Arbeit anerkennen
- die Verantwortung des Einzelnen für seinen Schutz stärken
- Eingriffe in die Privatsphäre zur Überwachung ausschließen
- Und natürlich müssen die ganzen Reglementierungen der Solo-Selbständigkeit, der Werksverträge und Zeitarbeit an die Bedingungen innovativer Arbeit angepasst werden: ohne das Damoklesschwert der Scheinselbständigkeit müssen wir Freiheitsrechte für einkommensstarke Arbeit schaffen und Schutzrechte für prekäre Arbeit beibehalten.
Wir müssen politisch alles dafür tun, dass neue Formen von Arbeit überhaupt wachsen können, bevor die Regulierer ans Werk gehen. Geistig gefangen in Horrorszenarien legen sie neuen Arbeitswelten Fesseln an, ohne überhaupt zu wissen, ob und wo Auswüchse entstehen. Wer alles im Vorhinein reguliert, erstickt kreative Zukunft im Keim.
Zukunftsangst ist immer ein schlechter Ratgeber. Wir sehen die Roboter am Horizont, die den Menschen Jobs streitig machen. Gleichzeitig suchen wir händeringend nach Fachkräften, vor allem in Informatik und Technik. Fachleute sprechen vom Skill Shift: die am Arbeitsmarkt benötigten Fähigkeiten werden sich drastisch verschieben. Deshalb:
- Wir müssen entlang der gesamten Bildungskette auf zwei Feldern Kompetenzen entwickeln: Digitales und Selbstsouveränität. Wie im Sport mit Spitzensport, Leistungssport und Breitensport. Von MINT-Internaten über Maker Spaces an Schulen bis hin zu Coding Schools ohne Noten-Eintrittsbarrieren.
- Deutschland muss sich für neue HighTech-Geschäftsmodelle öffnen. Wer sich an die analoge Welt des 20. Jahrhunderts klammert oder nur auf etablierte Industrie setzt, riskiert unseren Wohlstand. Deutschland braucht regionale „Freiheitszonen“ für innovative Mittelständler, Gründerinnen und Gründer, unternehmerische Wissenschaftler, fortschrittliche Kommunen.
- Schlussendlich braucht es in Deutschland eine gesellschaftliche und politische Debatte, wie Gesellschaft und Wirtschaft in der digitalen Ära aussieht: die Humane Marktwirtschaft in der Digitalisierung.
Machen wir uns auf den Weg!