Afghanistan – Ein tieferer Einblick 

von Professor Dr. Neamat Nojumi

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt. Das Original finden Sie hier.

„Wir haben eng mit dem Auswärtigen Amt vor Ort zusammengearbeitet, aber jetzt sind sie weggelaufen und haben uns zurückgelassen – es ist unglaublich.“

Dieser Satz stammt aus einem verzweifelten Telefonat, das ich mit einer deutschen Ortskraft über die Bemühungen, die Menschen aus Kabul rauszuholen, geführt habe – nur Tage bevor die Stadt von den Taliban überrannt wurde. Die Tiefe der Verzweiflung drückte sich in schockierenden Bildern von jungen Afghanen aus, die sich an ein US-Militärflugzeug des Typs C-17 klammerten und in den Tod stürzten. Diese verzweifelten Jugendlichen waren jedoch nur einige der Millionen Afghanen, die sich mit ganzem Herzen für die Demokratie einsetzten, eine säkulare nationale Verfassung schufen, zu Wahlen gingen und Mädchen und Frauen den Zugang zu Bildung, Gesundheitsdienstleistungen sowie die Übernahme öffentlicher Verantwortung ermöglichten – Jetzt riskieren sie lieber einen qualvollen Tod, als unter einer mittelalterlichen Theokratie zu leben, die eine islamistische Diktatur errichten will, in der Mädchen und Frauen als minderwertig betrachtet werden, in der Meinungs- und Gedankenfreiheit als Sünde gilt, die mit dem Tod bestraft wird, in der religiöse Minderheiten – mit Ausnahme der Taliban selbst –als unrein angesehen werden und in der Frauenrechte und Menschenrechte als Ergebnis westlicher Bevormundung und Korruption gelten. Durch die Taliban-Herrschaft könnten schnell bis zu sieben Millionen Menschen aus dem Land flüchten, viele mehr könnten innerhalb Afghanistans vertrieben werden. So ist es nicht auszuschließen, dass sich Afghanistan – wieder einmal – in einen sicheren Hafen für internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida und ISIS verwandeln wird.

Die grausamen Bilder aus Afghanistan schockierten sowohl die Amerikaner als auch die restlichen NATO-Staaten, welche schätzungsweise 290 Millionen Dollar pro Tag über einen Zeitraum von 7,300 Tagen (2020) investierten und mehr als 7,400 militärische und zivile Mitarbeiter in eine internationale Militärintervention involvierten, die 20 Jahre lang andauerte. Viele der amerikanischen und europäischen Veteranen, die in Afghanistan gedient haben, verfolgten das Geschehen mit Wut, Verzweiflung und sogar Scham. Der Zusammenbruch der afghanischen Regierung wurde als das zweite große Scheitern (nach Myanmar) eines vom Westen geförderten demokratischen Experiments im Jahr 2021 betrachtet – und das in einer Zeit, in der Russland auf eine sicherheitspolitische Vorherrschaft in der ehemaligen Sowjetrepublik drängt, China seinen wirtschaftlichen Einfluss in Eurasien ausweitet und beide gleichzeitig die Essenz eines Demokratiebündnisses in der globalen Ordnung des 21. Jahrhunderts infrage stellen. Dieser Artikel erläutert die wichtigsten Fehler der US- und NATO-Mission, die schließlich zum Zusammenbruch der afghanischen Regierung geführt haben. Außerdem werden wichtige Möglichkeiten aufgezeigt, wie die Stabilität des post-NATO-Afghanistans wiederhergestellt werden kann, um einen Bürgerkrieg zu verhindern und eine gemeinsame Regierung, die den Rückhalt der breiten Bevölkerung genießt, zu unterstützen, u. a. durch die Bildung eines Unterstützungsquartetts aus der EU, den USA, China und Russland.

Professor Dr. Neamat Nojumi ist ein amerikanischer Sozialwissenschaftler, der zu verschiedenen Themen in den Bereichen Global Governance und Außenpolitik forscht. Er arbeitete als Professor an der George Mason University, als Forschungsstipendiat an der Harvard Law School und als leitender Berater der US-Regierung. Er hat Auszeichnungen und Anerkennungen von führenden Politikern sowie nationalen und internationalen Institutionen erhalten.

Wie es dazu kam

Es gibt eine Reihe von Schlüsselfaktoren, die zu der von Washington verursachten Katastrophe im August 2021 beigetragen haben:

Militarisierung der politischen Strategie

„Wir haben [die Mission in] Afghanistan unter falschen Voraussetzungen angefangen, und ich bin fest entschlossen, fortan in Versöhnung zu investieren, um diesen Krieg zu beenden.“

So lautete der Plan von Botschafter Richard Holbrooke, den er mir während eines Meetings in seinem Büro im Außenministerium mitteilte, in dem wir Chancen und Zukunftsperspektiven für Afghanistan besprechen wollten – nur wenige Wochen bevor er Mitte Dezember 2010 an einer Aortendissektion starb. Die von den USA seit 2001 geführte Militärintervention in Afghanistan hatte zum Ziel, „sicherzustellen, dass das Land nicht wieder zu einem sicheren Hafen für internationale Terroristen wird, die die Heimatländer der NATO-Mitglieder angreifen.“ Mit der Absicht, das Taliban-Regime als Unterstützer Al-Qaidas zu beseitigen, fokussierten sich die USA und die NATO auf die Bildung einer neuen nationalen Regierung in Afghanistan. Auch wenn dies allgemein als edle Absicht galt, so war sie doch fehlgeleitet, denn um die Terroristen zur Rechenschaft zu ziehen, waren Terrorbekämpfung und Strafverfolgung erforderlich, nicht aber groß angelegte, konventionelle militärische Maßnahmen. Noch wichtiger ist, dass der Aufbau einer neuen Regierung politische und diplomatische Strategien erforderte, entscheidende Fähigkeiten, die sowohl in der Afghanistan-Politik der USA als auch der NATO zu wünschen übrig ließen.

Als es darum ging, eine neue Regierung zu bilden, verhinderte der vorherrschende militaristische Ansatz Washingtons und Brüssels, eine politische Strategie zu entwickeln, die langfristige Sicherheitsziele definierte und so die lokale Stabilität durch eine kooperative regionale Agenda förderte. Daher ist es wenig überraschend, dass die von den USA geführte Militärintervention nur von einem kleinen Team des Außenministeriums unterstützt wurde und weder die Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung (USAID) noch andere relevante Organisationen am Verhandlungstisch saßen, bzw. entweder stark unterfinanziert oder orientierungslos waren. Dieser strategische Mangel führte zu einer schleichenden Ausweitung der Mission (Anm. d. Red.: eng. ‚mission creep‘), bei der sich die Bemühungen der USA und der NATO allmählich von der „Tötung und Gefangennahme“ der „mutmaßlich“ für den 11. September verantwortlichen Personen verlagerte und am Ende sowohl Wiederaufbauprogramme, Drogenbekämpfung, Aufstandsbekämpfung und den Aufbau nationaler afghanischer Sicherheitskräfte umfasste. Mit zunehmender Dauer stiegen sowohl die Kosten des Einsatzes wie auch die Todesfälle stetig an, während sich die aufeinander folgenden amerikanischen Administrationen darauf konzentrierten, die Truppen sechs Mal abzuziehen. Schon am 1. Mai 2003 hatte der damalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld das „Ende der Kampfhandlungen“ erklärt. Dieser eher willkürlich klingende Truppenabzugsplan ermöglichte es den Taliban, ihren Aufstand immer wieder an die von Washington verkündeten Zeitvorgaben anzupassen.

Am 22. Juli 2019 traf Ex-Präsident Trump auf den pakistanischen Premierminister Imran Khan. Während des Meetings drängte er Khan, die Taliban im Gegenzug für den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan zu einem Friedensabkommen zu bewegen. Diese unilateral getroffene und wenig abgestimmte Entscheidung des US-Präsidenten führte zu einem schlecht ausgehandelten Friedensabkommen, welches den Taliban den sicheren Abzug der amerikanischen Streitkräfte zum 1. Mai 2021 versprach. Da die Biden-Regierung die Risiken eines übereilten Abzugs kannte, verschob sie das Datum des geplanten Abzugs auf den 11. September 2021, beließ jedoch die Details des Friedensabkommens mit den Taliban weitestgehend unverändert. Die Entscheidung beider US-Präsidenten, den Krieg in Afghanistan zu einem Zeitpunkt zu beenden, an dem die Verluste und Kosten des Krieges für die USA und die NATO am niedrigsten waren, spiegelt eher ihre eigenen politischen Ambitionen wider, eine zweite Amtszeit zu gewinnen, als die langfristigen nationalen Sicherheitsziele der Vereinigten Staaten. Trotz zahlreicher Warnungen und der Existenz hoffnungsversprechender multilateraler Ansätze zur Beendigung des Afghanistan-Konflikts akzeptierte die Biden-Regierung das mangelhafte Friedensabkommen mit den Taliban.

Die Militarisierung des Einsatzes in Afghanistan durch die USA und die NATO sowie seine Politisierung im Rahmen des amerikanischen Wahlkampfes reduzierten die Verantwortlichkeit des Militärs und der Nachrichtendienste auf ein Minimum. Das lag vor allem daran, dass diese häufig mit der Vorbereitung des bevorstehenden Abzugs oder mit taktischen Aufgaben zum Schutz der US-Truppen vor Ort beschäftigt waren. Dieser eher lasche politische Ansatz behinderte die militärischen Führungs- und Geheimdienstkapazitäten und äußerte sich in einer extrem kurzsichtigen US-Außenpolitik. Diese dramatischen Defizite ermöglichten es den Taliban, sich in ihre geschützten Zufluchtsorte innerhalb Pakistans zurückzuziehen, sich dort von Verlusten zu erholen, neue Organisationsstrukturen aufzubauen und immer wieder auf das Kampffeld zurückzukehren. Als langfristige Folge konnten Washington und Brüssel den raschen Zusammenbruch der afghanischen Regierung, den Rücktritt von Präsident Ghani und die rasante Übernahme durch die Taliban nicht vorhersehen, die im Zuge dessen Waffen und Militärausrüstung der USA und der NATO im Wert von über 83 Mrd. USD beschlagnahmten. Am Ende des Tages besteht kaum ein Zweifel daran, dass die militärische Führung der NATO-Allianz und ihre Soldaten jede Schlacht gewonnen haben, dass sie zumindest einige Wiederaufbauprojekte implementiert und Programme zur Förderung der Guten Regierungsführung, der Drogenbekämpfung und des Aufbaus der Infrastruktur unterstützt haben – alles Aufgaben, welche an zivile, nichtmilitärische Akteure und Partnerschaften hätten delegiert werden können, vorausgesetzt es hätte sie gegeben. Es waren also die amerikanischen und europäischen Politiker, die den Krieg verloren haben.

Die lethargische Komplizenschaft der NATO

„Wir haben hochrangige Kommandeure der Aufständischen auf dem Schlachtfeld gefangen genommen und wollen, dass sie mit uns zusammenarbeiten.“

So lautete die Aussage eines britischen Kommandeurs einer Spezialeinheit in 2011, als ich mich für Möglichkeiten für Frieden und Versöhnung in Afghanistan einsetzte. Folglich fragte ich, „haben Sie jemanden in Ihrem Team, der die Sprache Ihrer Gefangenen spricht? Kennen Sie jemanden, der mit der jüngeren Geschichte Afghanistans vertraut ist oder die Rolle von Religion, Kultur oder islamistischer Ideologie versteht?“ Die Antwort auf all diese Fragen lautete „nein,“ mit der Begründung, dass sie für operative, nicht politische Aufgaben zuständig seien. Diese Auffassung war das Ergebnis des ‚quasi-automatischen‘ Beitritts der NATO zum „Globalen Krieg gegen den Terror“ aus Solidarität den USA gegenüber gemäß Artikel 5 des Vertrags überkollektive Verteidigung, der jedes einzelne Mitglied des Bündnisses zum Handeln verpflichtet. Damals waren viele der Ansicht, dass eine solche Intervention gegen das Völkerrecht verstoße, welches sich im Rahmen des Internationalen Pakts über Bürgerliche und Politische Rechte (ICCPR) auch mit der Terrorismusbekämpfung befasst. Der ICCPR verpflichtet dazu, Terrorismus als Verbrechen gegen die Rechte der Allgemeinheit zu behandeln. Vor diesem Hintergrund folgte die NATO der Bush-Regierung in eine internationale Militärintervention, die eher auf politischer Solidarität und nicht auf den nationalen Sicherheitsinteressen der europäischen Länder oder deren völkerrechtlichen Verpflichtungen beruhte. Dieser lethargische Ansatz wurde ohne eine politische Strategie fortgesetzt. So konnte weder der Ausgang der Mission vorhergesehen, noch unbeabsichtigte Nebenerscheinungen wie zunehmende Opfer unter der Zivilbevölkerung,  außerordentliche Auslieferungen (Anm. d. Red.: eng. ‚extraordinary renditions‘), die Rechtfertigung von Folter oder die Einrichtung von Gefangenenlagern in Guantanamo durch Militärkommissionen mit „unklarer gerichtlicher Zuständigkeit“ vermieden werden.

Obwohl der UN-Sicherheitsrat in seiner Resolution 1386 die militärische Intervention in Afghanistan als eine von der NATO geführte Mission zur Ausbildung der afghanischen Streitkräfte und zur Unterstützung des Wiederaufbaus der staatlichen Institutionen definierte, übernahm die NATO nie eine solche Führungsverantwortung. Stattdessen verfolgte sie von 2001 bis 2009 die Ziele der Terrorismusbekämpfung, d. h. die Tötung und Festnahme mutmaßlicher Kämpfer. Das Wiedererstarken der Taliban zu einer ausgereiften Aufstandsbewegung stellte sowohl die politische Vision als auch die militärische Führung der NATO in Frage, sodass diese sich gezwungen sah, den Abzug zuerst von 2009 auf 2011 zu verschieben, dann durch die Obama-Administration auf 2014. Mit der Resolution 2189 des UN-Sicherheitsrats von 2014 wurde die Übertragung der Sicherheitsverantwortung an die nationalen afghanischen Sicherheitskräfte anerkannt und die durch die NATO-geführt Mission zur Unterstützung der Resolution verlängert. Ziel der Mission war es, den afghanischen Sicherheitskräften und -institutionen dabei zu helfen, Resilienz aufzubauen um die afghanische Bevölkerung langfristig zu schützen. Donald Trump’s „America First“-Agenda, die mehr ein personalisierter emotionaler Aufschrei über die globale Rolle der USA war als eine vernünftige Auseinandersetzung mit Washingtons Verantwortung bei der Führung eines Bündnisses von Demokratien, erschwerte dieses Vorhaben ungemein. Wenn man die Beteiligung der USA an der NATO-geführten Unterstützungsmission aus einer Kosten-Nutzen Perspektive betrachtet, strebte das Weiße Haus eine Safe-Exit-Strategie über das mit den Taliban ausgehandelte Friedensabkommen an. Dass Präsident Trump einem Treffen mit den Taliban-Führern in Camp David zustimmte, empörte viele Republikaner und Demokraten; jedoch genauso ärgerten sich afghanische Regierungsvertreter, insbesondere Präsident Ghani, über Trump’s Telefongespräch mit dem politischen Führer der Taliban, Mullah Abdul Ghani Baradar. Das oben erwähnte Treffen mit dem pakistanischen Premierminister Khan und die anschließenden Verhandlungen mit den Taliban fanden ohne Beteiligung und Konsultation der NATO-Führer statt, die anschließend nur in begrenztem Umfang vom US-Außenministerium und seinem Sondergesandten Botschafter Khalilzad unterrichtet wurden.

Eine solche unilaterale Verhandlung mit den Taliban war ein direkter Verstoß gegen die NATO-Mandate gemäß der Resolution 2189 des UN-Sicherheitsrates. Folglich hätte auch eine Beendigung der von der NATO-geführten US-Mission mit der afghanischen Regierung und nicht mit den Taliban ausgehandelt werden müssen. Die Vereinbarung, die afghanische Verfassung für ungültig und so die Republik Afghanistan für beendet zu erklären war eine klare Verletzung der nationalen Souveränität Afghanistans, deren Schutz die eigentliche Aufgabe der NATO-Streitkräfte war. Der Schulterschluss der NATO mit dem einseitigen Vorgehen der USA verbesserte die Verhandlungsposition der Biden-Regierung, um die afghanische Regierung dazu zu bewegen, das Friedenabkommen mit den Taliban zu akzeptieren. Der Verhandlungsprozess ermutigte die Taliban. Darüber hinaus verschaffte das Friedensabkommen der militanten Gruppe die nötige politische Legitimität, die sie seit ihrer Gründung im Jahr 1994 nicht erlangen konnte; und das auf Kosten der afghanischen Regierung. Das Ergebnis schwächte den Einfluss der Regierungschefs, insbesondere Präsident Ghani, und desillusionierte die afghanischen Streitkräfte, die schnell den bewaffneten Kampf gegen die Taliban einstellten und ihre Posten verließen, kurz nachdem die USA den Luftwaffenstützpunkt Bagram aufgegeben hatten.

Anfang August bezeichnete der britische Verteidigungsminister Ben Wales den US-Deal mit den Taliban als „verfault“ (Anm. d. Red.: eng. ‚rotten‘). Im selben Zug versuchte er, andere NATO-Verbündete davon zu überzeugen, ein von Großbritannien geführtes Militärbündnis zur Unterstützung der afghanischen Streitkräfte zu befürworten, was ihm jedoch nicht gelang. Das desaströse Ende des NATO-Einsatzes war schockierend und bitter. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bezeichnete die Szenen verzweifelter Zivilisten auf dem Kabuler Flughafen als menschliche Tragödie und als „beschämend,“ Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte die Situation in Afghanistan ein von Washington verursachtes „Debakel.Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, warnte sogar, dass die Katastrophe in Afghanistan „der politischen und moralischen Glaubwürdigkeit des Westens grundlegend schadet.“

Diese jüngsten Entwicklungen hätten vermieden werden können, hätte die NATO-Führung die erforderlichen Führungskapazitäten aufgebaut, anstatt 20 Jahre lang in einem schwer greifbaren, von Washington geführten militärischen Rahmen zu arbeiten. Am 12. August trafen sich der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte, General Frank McKenzie, sowie der Sondergesandte Khalilzad mit Mullah Baradar, um ihn darüber zu informieren, dass einige US-Truppen nach Afghanistan zurückkehren würden, um den Abzug der Streitkräfte abzuschließen und deren Schutz vor Angriffen der Taliban sicherzustellen. Baradar erklärte sich bereit, alle Taliban-Kämpfer, die sich bereits in Kabul aufhielten, abzuziehen und fragte General McKenzie, ob er die Verantwortung für die Sicherheit in der Hauptstadt übernehmen wolle. McKenzie erwiderte, dass dies nicht seine Aufgabe sei. Da die afghanischen Regierungstruppen den Vormarsch der Taliban keineswegs aufhielten, witterte der Taliban-Führer ein Sicherheitsvakuum, welches er schnell füllte, indem er Kabul einnahm und die Regierung Ghani’s absetzte. Dies wirft eine berechtigte Frage auf: Hätte dieses Sicherheitsvakuum vermieden werden können, wenn ein politischer oder militärischer Vertreter der NATO (z.B. der EU-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Tomas Niklasson) an dem Treffen in Doha teilgenommen hätte? Unbestreitbar ist, dass die Biden-Regierung eine Mitverantwortung für die Katastrophe in Afghanistan trägt. Aber auch die übrige NATO-Führungsriege sollte für die lethargische und grob vernachlässigte Mission zur Rechenschaft gezogen werden. Nicht ohne Grund zwang das niederländische Parlament jüngst die Außenministerin Sigrid Kaagzum zum Rücktritt, weil sie die Mission in Afghanistan schlecht geführt hatte.

Das Ergebnis

Die Wahrheit darüber zu akzeptieren, was in einem Land – verwüstet von vier Jahrzehnten Krieg – möglich und was unmöglich ist, stellt ein faszinierendes aber auch kompliziertes Unterfangen dar. Das Ergebnis der 20-jährigen NATO-Mission für die afghanische Bevölkerung und den verbündeten Staaten, lässt sich grob in das Gute, das Schlechte und das Hässliche zusammenfassen.

Das Gute

„Ich bin ermutigt. Es macht mich zuversichtlich, dass die Afghanen nun in der Lage sind, die demokratischen Institutionen weiter voranzubringen, wenn die ISAF Afghanistan verlässt.“

So antwortete der deutsche General Jürgen Theodor Weigt auf meine Frage nach dem Stand der Dinge in Afghanistan im Jahr 2011. General Weigt vertrat damals die ISAF bei einem zivil-militärischen Dialog mit der lokalen und internationalen Zivilgesellschaft, bei dem einige die NATO als „kriegerische Macht“ (Anm. d. Red.: eng. ‚belligerent force‘) in Afghanistan bezeichneten. Zwei Jahre später sagte mir der hochrangige Zivilbeauftragte der NATO, Sir Simon Lawrance Gass: „Wenn man sich anschaut, was seit 2001 erreicht worden ist, dann sind die Afghanen auf einem guten Weg, auch wenn noch wichtige Schritte vor ihnen liegen… Afghanistan ist jetzt ein besseres Land für die Bevölkerung.“ Seit Beginn des NATO-Einsatzes im Jahr 2001 hat sich die von den Taliban hinterlassene Ruinenstadt Kabul zu einer boomenden Metropole mit mehr als 4 Millionen Einwohnern entwickelt. In der Tat wies das Land im Jahr 2020 eine der höchsten Urbanisierungsraten der Welt auf. Afghanistan hat eine wahrhafte Kommunikationsrevolution erlebt, inklusive eines landesweiten Mobiltelefonnetzwerks, Satellitenzugang, bessere Verkehrsmittel und einer Elektrifizierung von fast 90 Prozent in den städtischen Gebieten (2001 waren es nur 5 Prozent). Neun Millionen Afghanen, auch Mädchen, erhielten eine Grund- und Sekundarschulbildung (bei einer Bevölkerung von 35 Millionen). Wohingegen es im Jahr 2001 nur eine einzige Universität gab, wurden in den letzten Jahrzenten Hunderte weitere gegründet (die meisten davon privat finanziert), an denen mittlerweile 300.000 Studenten eingeschrieben sind – davon 100.000 Frauen (im Vergleich zu Null in 2001). Frauen besetzen 27 Prozent der Parlamentssitze (ebenfalls im Vergleich zu Null in 2001) und leiten Ministerien, Justizämter, Polizeistationen, Militäreinheiten und Gerichte. Vor der Machtergreifung der Taliban gab es rund 200 afghanische Fernsehsender, eine große Anzahl an Radiosendern sowie internetbasierten soziale Medien, die fortschrittliche Werte und Perspektiven in die entlegensten Winkel des Landes verbreiteten. Mit dem Aufkommen einer Mittelschicht und der Ausweitung der Massenmedien stieg der Pressefreiheitsindex im Land zu einer der höchsten in der Region, und die Wirtschaft wuchs von 2,5 Milliarden Dollar im Jahr 2001 auf 19 Milliarden Dollar im Jahr 2020. Diese Fortschritte unterstrichen den vorsichtigen Optimismus, den mir General Weigt und Botschafter Gass vor zehn Jahren entgegenbrachten.

Das Schlechte

„Wir sind jetzt verwirrt. Wir müssen einen Dialog zwischen Ihnen und Ashraf Ghani (dem damaligen Vorsitzenden der afghanischen Transition Coordination Commission) einrichten, um die Vor- und Nachteile von Zentralisierung und Dezentralisierung zu diskutieren.“

Dies schlug der stellvertretende Leiter der Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan vor, nachdem ich die Ergebnisse meiner Untersuchung „How to Fix Governance in Afghanistan“ vorstellte. Die Zentralisierung der Regierungsführung in Afghanistan war ein gescheitertes Experiment, welches von der kommunistischen Regierung der 1980er Jahre erprobt wurde und zu weit verbreiteten lokalen Aufständen führte. Schlimmer noch, das Experiment löste auch eine sowjetische Militärinvasion und einen blutigen Bürgerkrieg aus, der in den 1990er Jahren den Aufstieg der Taliban entscheidend erleichterte. Nichtsdestotrotz zielte auch die Militärintervention der NATO darauf ab, eine höchst zentralisierte Regierung zu bilden. Das Bonner Abkommen, welches von Anti-Taliban-Oppositionsgruppen formuliert wurde und eine solche Zentralisierung vorsah, genoss vollste Unterstützung von dem damaligen Sondergesandten von Präsident Bush, Zalmay Khalilzad. Khalilzads Bemühungen wurden durch Lakhdar Brahimi, den Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen, ergänzt, der in hohem Maße auf Ashraf Ghani (den kürzlich geflohenen Präsidenten Afghanistans) angewiesen war. Sowohl Khalilzad als auch Ghani unterstützten eine zentralisierte republikanische politische Ordnung in Afghanistan. Die Taliban wurden vom Bonner Prozess ausgeschlossen, und der ehemalige afghanische Monarch Mohammed Zahir, welcher als äußerst beliebte Figur im Land galt, wurde an den sprichwörtlichen Rand des Verhandlungstisches gedrängt. Stattdessen setzte sich Khalilzad für Hamid Karzai als Chef der neuen afghanischen Regierung ein, eine unbekannte Persönlichkeit aus den ländlichen Regionen Südafghanistans.

Durch den Import einer zentralisierten politischen und administrativen Ordnung aus dem Ausland wurden die Möglichkeiten zur Etablierung einer „von unten nach oben gerichteten“ (Anm. d. Red.: eng. ‚bottom-up‘) Regierungsführung in Afghanistan stark eingeschränkt. Um es mit den Worten von Thomas Barfield, dem renommierten Anthropologen der Boston University, zu sagen: „Diese Struktur [Zentralisierung] machte die afghanischen Bürger zu Untertanen, die es mit rechenschaftspflichtigen Bürokraten zu tun hatten, die eher dem Palast [dem Präsidenten] gefallen wollten als der Bevölkerung, von der sie oft sehr wenig wussten.“ Im Rahmen dieser von der NATO gestützten Zentralisierung besetzte der Präsident eine beträchtliche Anzahl von Sitzen im nationalen Parlament mit seinen Protegés, ernannte sämtliche Provinz- und Distriktverwalter selbst und spielte eine zunehmend starke Rolle im Rechtssystem. Diese extrem zentralisierte politische Ordnung führte zu zahlreichen Engpässen bei der Verteilung von Ressourcen, die von den USA/NATO und der übrigen internationalen Gemeinschaft für die 34 Provinzen und 421 Distrikten Afghanistans bereitgestellt wurden. Die Verteilung von großzügig bereitgestellten Mitteln in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung, Ernährung und Beschäftigungsmöglichkeiten wurde so durch unvereinbare politische und administrative Strukturen behindert. Die Schwäche der Regierung, der unkontrollierte Machtmissbrauch und die Korruption auf Distrikt- und Provinzebene enttäuschten die Bevölkerung und boten Raum für das Wiedererstarken der Taliban auf lokaler Ebene, vier Jahre nachdem sie entmachtet worden waren. Eine, insbesondere in den Provinzen, schwache Regierung und die unfähige Verwaltung in der Hauptstadt richteten sich mehr nach den Anforderungen der internationalen Geberstaaten als nach denen der eigenen Bevölkerung, und ein Missverhältnis zwischen Budgetierung, Planung und Durchführung von Entwicklungsprogrammen führte zu wachsenden Spannungen zwischen der afghanischen Regierung und den internationalen Geberstaaten, welche sich wiederum an die von ihren Regierungen formulierten Mandate hielten.

Die Ziele der USA und der NATO für den globalen Krieg gegen den Terror in Afghanistan stützten sich auf ehemalige Warlords und Milizenführer, die jeweils ihre eigenen lokalen Interessen verfolgten und die gut gemeinten Absichten der NATO-Staaten, beispielsweise die Unterstützung demokratischer Prozesse oder rechtstaatlicher Strukturen, untergruben. Noch im Jahr 2009 betrachtete die NATO den Aufbau nationaler Sicherheitsinstitutionen, einschließlich einer nationalen Armee, als eine praktikable Lösung für den zukünftigen Abzug der internationalen Streitkräfte aus Afghanistan. Die wachsende Konfrontation zwischen der fragilen nationalen Regierung auf der einen Seite, und der erstarkten Taliban auf der anderen, sowie die weitverbreitete Korruption in den staatlichen Institutionen führte zu einer weiteren Militarisierung der NATO-Strategie. Das afghanische Militär wurde als verlängerter Arm der NATO-Streitkräfte in Afghanistan präsentiert, da die afghanischen Streitkräfte institutionell und operativ in hohem Maße auf die logistische, nachrichtendienstliche und luftgestützte Unterstützung durch die USA/NATO angewiesen waren. Milliarden von Dollar wurden für die Arbeit von mehr als 17,000 privaten Auftragnehmern bereitgestellt (Anm. d. Red.: eng. ‚contractors‘), die die erforderliche Unterstützung leisten sollten, und weitere Milliarden für die Finanzierung der Kampfeinsätze. Diese Aufwendungen fielen zu Lasten der dringend erforderlichen Investitionen in die Staatsführung und dem Aufbau von Kapazitäten auf Distrikt- und Provinzebene, die für die politische und soziale Stabilität des Landes von entscheidender Bedeutung sind.

Das Hässliche

Die Taliban haben uns nicht besiegt. Wir haben uns selbst besiegt.“

Das erklärte H. R. McMaster, der ehemalige nationale Sicherheitsberater von Präsident Trump, im August 2021. Die oben erwähnte Militarisierung der NATO-Strategie führte zum Aufbau einer 300.000 Personen starken afghanischen Sicherheitstruppe. Die Finanzierung dieser Streitkräfte war größtenteils von internationaler Hilfe abhängig. Im Zuge dieser Bemühungen hat sich zweifellos ein charismatischer, militärischer Kader von patriotischen und loyalen Führungspersönlichkeiten der unteren und mittleren Ränge herausgebildet. Die Ernennung leitender Militärs erfolgte jedoch häufig auf Grundlage politischer Loyalität gegenüber dem afghanischen Präsidenten und nicht aufgrund von Verdiensten innerhalb der Streitkräfte. Die Angehörigen des afghanischen Militärs, insbesondere die afghanischen Spezialeinheiten, wurden im ganzen Land respektiert und verehrt. Mit Unterstützung der NATO wurden sie zu einer effektiven Kampftruppe und gewannen jede einzelne Schlacht gegen die Aufständischen der Taliban seit der Übertragung der Sicherheitsverantwortung im Jahr 2014.

Doch die Moral des afghanischen Militärs wurde durch das Friedensabkommen der USA mit den Taliban gebrochen. Die Glaubwürdigkeit der afghanischen Regierung wurde abermals untergraben. „Das amerikanische Friedensabkommen mit den Taliban, einem Feind, den wir seit zwanzig Jahren bekämpfen, war unseren Offizieren und Soldaten nur schwer zu erklären,“ sagte mir kürzlich ein hochrangiger afghanischer Militäroffizier. Ein anderer ehemaliger afghanischer Sicherheitsbeamter erklärte: „Wir wurden in der Schwebe gelassen, zwischen einer unbekannten zukünftigen Regierung und der Legitimierung unseres Feindes, der unsere Familienmitglieder und unsere Kinder in Schulen, Krankenhäusern, Universitäten oder auf Baustellen durch Selbstmordattentäter getötet hat. Als wir sahen, wie Flugzeuge und Drohnen der USA und der NATO über unsere Schlachtfelder flogen, aber ihre Hilfe verweigerten, wurde die Situation noch bedrohlicher – und wir wussten nicht mehr, auf wessen Seite sie standen.“ Generalleutnant Sami Sadat, der das 215 Maiwand-Korps der afghanischen Nationalarmee im Südwesten Afghanistans befehligte, mahnte an, dass durch den Wegfall dieser essenziellen Fähigkeiten quasi über Nacht, das afghanische Militär nur noch über unzureichende Munitions-, Transport-, und sogar Lebensmittelvorräte verfüge. Das durch die Trump-Regierung verhandelte Friedenabkommen mit den Taliban und der von der Biden-Regierung durchgeführte überhastete Abzug der US-Streitkräfte haben das afghanische Sicherheitspersonal völlig demoralisiert und ihnen den Grund zum Widerstand gegen die Taliban-Offensive genommen. Um es noch einmal mit den Worten von H. R. McMaster zu sagen:

„Unser Außenminister [Mike Pompeo] hat ein Kapitulationsabkommen mit den Taliban unterzeichnet.“

Der Weg nach vorn

Die düstere Frage, die sich den USA und der EU jetzt stellt, ist folgende: Wir haben bereits die Regierung von Ashraf Ghani verloren; sind wir bereit, Afghanistan als Ganzes zu verlieren? Das Land steht für 20 Jahre Investitionen, welche eine neue Generation von Afghanen hervorgebracht hat, die häufig eine neue Lebensweise angenommen und jede sich bietende Chance ergriffen hat, um produktive Mitglieder der internationalen Gemeinschaft zu werden und sich in Richtung einer Nation der Gesetze und Zivilität zu bewegen. Afghanistan, und nicht der fliehende Präsident oder sein engster Kreis politischer Eliten, symbolisiert die Opferbereitschaft von Tausenden internationalen Streit- und Ortskräften, die ihr Leben riskiert haben und für lange Zeit, wenn nicht gar für immer, von ihren Familien getrennt wurden. Afghanistan ist ein junges Land, in dem 75 % der Bevölkerung jünger als 25 Jahre sind; die meisten von ihnen sind während der NATO-Mission geboren und aufgewachsen. Ihnen wird es schwer fallen, mit einer theokratischen Diktatur zurechtzukommen, die sich von der traditionellen kulturellen Toleranz des Landes absetzt und den Fortschritt der letzten 20 Jahre verabscheut.

Diese Mischung aus Gutem, Schlechtem und Hässlichem verbildlicht die Realität Afghanistans und lässt die Wahrscheinlichkeit eines blutigen Bürgerkriegs, der regionale und globale Folgen hat, größer werden. Angesichts dessen sollten Washington und Brüssel folgende Prioritäten und Empfehlungen in Betracht ziehen:

Brückenschlag zwischen China und Russland 

Die Stabilität Afghanistans liegt zweifelsfrei im gemeinsamen Sicherheitsinteresse von Brüssel, Washington, Peking und Moskau, insbesondere jetzt, da die militärische Präsenz der USA und der NATO vor Ort beendet ist. Die zentralasiatischen und uigurischen Islamisten waren Teil der Taliban-Bewegung und haben lange Zeit in Afghanistan gekämpft. Diese militanten Kämpfer waren maßgeblich an den Vorstößen der Taliban in Nordafghanistan beteiligt und sind eng mit anderen regionalen militanten Gruppen, einschließlich Al-Qaida, vernetzt. Der Aufstieg von ISIS-K und ihre rasche Expansion seit der Machtübernahme der Taliban wird von den meisten dschihadistischen Kämpfern aus der Russischen Föderation und dem Kaukasus unterstützt, die bereits zuvor in Irak und Syrien gekämpft haben. Ein islamisches Emirat in Afghanistan wird zu einem Bürgerkrieg führen, der eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung für Westchina, den ‚weichen Bauch‘ (Anm. d. Red.: eng. ‚soft belly‘) der Russischen Föderation, den Kaukasus und Zentralasien darstellen wird. Aus diesem Grund hat Moskau bereits mehrere Militärübungen in den, an Afghanistan angrenzenden, zentralasiatischen Ländern durchgeführt, während das chinesische Militär in der angrenzenden Region Xinjiang in höchster Alarmbereitschaft steht. Darüber hinaus hat China seinen Einfluss in Pakistan ausgeweitet, um die Taliban dazu zu bewegen, ihren Kurs zu ändern und so den Ausbruch eines nahenden Bürgerkriegs zu verhindern. Stattdessen wünscht sich Peking, dass die Taliban sich an einer breit angelegten Regierung in Afghanistan beteiligen. Nichtsdestotrotz betrachten die Taliban China weiterhin als „befreundete Nation“ und haben der russischen Botschaft in Kabul und ihren Vertretern in ganz Afghanistan Sicherheitsgarantien zugesprochen. Die militante Gruppe hat in den letzten Jahren funktionierende Beziehung zu Peking und Moskau unterhalten – nicht jedoch zu Washington oder Brüssel. Daher kann ein Unterstützungsquartett aus der EU, den USA, China und Russland die Stabilitätsbemühungen im Rahmen eines umfassenderen regionalen und internationalen Mandats weiter verbessern.

Verhinderung eines Bürgerkriegs

Es wäre äußerst naiv, die Taliban nach 20 Jahren des Experimentierens auf die Probe zu stellen. Das Verhalten der Taliban deutet darauf hin, dass sie nach wie vor eine ultrakonservative, mittelalterliche theokratische Bewegung sind, die ein islamistisches Emirat errichten will. In diesem Emirat könnten Al-Qaida und ISIS erneut Fuß fassen, dieses Mal aus einer Position der Stärke. Die höchsten Sicherheitsposten in der von der Taliban angestrebten Regierung sind derzeit der Führungsriege des Haqhani-Netzwerks versprochen, einer von den USA und der NATO als terroristisch eingestuften Gruppe, die für den Tod Hunderter US- und NATO-Soldaten sowie Tausender Zivilisten verantwortlich ist. Die Geheimdienstposten wurden an Personen vergeben, die für die Rekrutierung und den Einsatz von Selbstmordattentätern gegen Krankenhäuser, Schulen, Gotteshäuser und lokale Märkte verantwortlich waren. Nach internationalem Recht hätten diese Personen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor einen internationalen Strafgerichtshof gestellt werden müssen. Für die meisten Afghanen wäre es unerträglich, unter Terroristenführern zu leben, die für den Tod ihrer Familienangehörigen verantwortlich sind. Sie haben nur zwei Möglichkeiten: zu kämpfen oder das Land zu verlassen. Wenn die Situation nicht entschärft wird, werden Millionen junger Afghanen die Grenzen überqueren, in den meisten Fällen in Richtung Europa. Das Gebot, Terroristen nicht in Schlüsselpositionen der zukünftigen afghanischen Regierung einzusetzen, sollte eine rote Linie für Washington und Brüssel sein, die nicht überquert werden darf.

Unterstützung für eine Regierung auf breiter Basis

In ganz Afghanistan ist wachsender Widerstand gegen die Machtübernahme der Taliban zu spüren. Dieser Widerstand geht von denjenigen aus, die jetzt schon ein ‚post-Taliban Afghanistan‘ planen. Die militante Gruppe hat keinen Cent oder Tropfen Schweiß in den Bau von Straßen und Gebäuden gesteckt – Infrastruktur, deren Vorzüge sie jetzt genießen. Außerdem fehlt es ihnen an Ausbildung, technischem Know-how und der Kunst der Staatsführung, um komplexe Verwaltungs- und Gesetzesvorhaben so umzusetzen, dass sie mit internationalen Normen und Vorschriften vereinbar sind. Washington und Brüssel sollten daher die Kommunikationskanäle mit der Nationalen Widerstandsfront von Afghanistan (NRF) unter der Führung von Ahmad Massoud und Amrullah Saleh in jedem Falle offen halten. Diese beiden charismatischen Führer stehen für eine Regierung auf breiter Basis, die sowohl auf regionaler Ebene große Unterstützung genießt als auch von den Regierungschefs der Nachbarländer nachdrücklich unterstützt wird.

Die Überbrückung der Sicherheitsinteressen zwischen der EU, den USA, China und Russland wird es der internationalen Gemeinschaft, und insbesondere den UN-Organisationen, ermöglichen, die ländliche Bevölkerung Afghanistans zu erreichen, die derzeit mit schwerwiegenden Unterbrechungen der Grundversorgung konfrontiert ist. So kann auch die Privatwirtschaft Afghanistans wieder in regionale und globale Handelsnetze eingebunden werden. Gleichzeitig können Bildungseinrichtungen einen wichtigen Beitrag dazu leisten, ein Stück Normalität zurückzugewinnen, gerade wenn Afghanistan in die Weltgemeinschaft (re-)integriert wird. Obgleich ein eher kostengünstiges Unterfangen, können solche Anstrengungen das Leben im Land verbessern – wenn nicht sogar retten. Dies würde es dem afghanischen Volk ermöglichen, die in den letzten 20 Jahren erzielten Errungenschaften in Bezug auf die menschliche Entwicklung sowie die regionale und internationale Einbindung Afghanistans zu schützen und auszubauen.