Erstes Walther Leisler Kiep Symposium 2016

Das Erste Walther Leisler Kiep Symposium der Global Bridges traf sich am 23. Juni 2016 in Berlin, um über die Beziehungen der Europäischen Union mit Russland unter dem Titel „Deutschlands Russland-Politik am Scheideweg?“ zu diskutieren und zu fragen, wie sich diese Beziehungen wieder verbessern lassen.

Zusammenfassender Bericht von Michael Thumann (Außenpolitischer Korrespondent, DIE ZEIT)

Es war der Tag, an dem sich die Briten für den Austritt aus der EU entschieden, ein historischer Tag für Europa, der möglicherweise auch auf die europäisch-russischen Beziehungen ausstrahlen wird. Entscheidend wird dafür sein, ob es Europa gelingt, in der Krise die Einheit zu bewahren oder ob es sich weiter spalten lässt. Ein Europa, das einheitlich und koordiniert handelt, ist auch besser aufgestellt, um eine neue Russland-Politik zu formulieren. Ein gespaltenes Europa kann nicht mehr als viele bilaterale Beziehungen der EU-Nationalstaaten zu Moskau hervorbringen, womöglich in Konkurrenz zueinander. Ein einheitlicher Auftritt dagegen beeindruckt sowohl die russische Führung wie auch die nichteuropäische Welt und vermittelt den Eindruck, dass es eben doch in bestimmten Bereichen eine gemeinsame europäische Außenpolitik gibt.

Um die Beziehungen Europas zu Russland zu erneuern, hat das Walther-Leisler-Kiep-Symposium im Wesentlichen über drei Fragen diskutiert:

  1. Mit welchem Russland hat Europa es zu tun?
  2. Ist eine internationale Verantwortungsgemeinschaft mit Russland möglich?
  3. Welche Handlungsoptionen hat die EU, um die Beziehungen zu Russland zu nachhaltig zu verbessern?

Mit welchem Russland hat Europa es zu tun?

Die Sowjetunion ist neben dem Zarenreich der wichtigste Vergleichsmaßstab, um das heutige Russland unter Putin politisch und historisch einzuordnen. Mehrere Teilnehmer des Symposiums haben an den Kalten Krieg und das Ende der Sowjetunion erinnert, als sich eine einmalige Chance zur Neuordnung der europäisch-russischen Beziehungen bot. Manche im Westen schreiben Wladimir Putin heute zu, er wolle die Sowjetunion restaurieren. Immerhin hat der russische Präsident den Untergang der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. An diesen Satz wurde auf dem Symposium mehrfach erinnert. Doch versteht man Putin falsch, wenn man deshalb glaubt, er wolle einfach nur das sowjetische Imperium wiederherstellen. Wichtiger ist die Erkenntnis, dass Putin den Untergang der Sowjetunion nicht als Befreiung von einem totalitären System empfindet, sondern als Niederlage. Aus seiner Sicht hat Russland im Ringen mit den USA und dem Westen eine Niederlage erlitten, aus der ein System entstanden ist, in dem Russland strukturell benachteiligt wird. Putin möchte deshalb, in den Worten eines Symposiumsteilnehmers, „das letzte Kapitel der Sowjetunion neu schreiben“.

Russland ist heute ein Staat, dessen Führung überzeugt ist, seit 1991 unfair behandelt worden zu sein und einen großen Nachholbedarf zu haben. Aus Sicht der russischen Elite ist die Ordnung nach dem Ende des Kalten Krieges von den Amerikanern gestaltet worden. Während die Europäer die Charta von Paris und das Vertragssystem zur Anerkennung der Grenzen als Garantie für Sicherheit und Stabilität in Europa sehen, sehen viele Angehörige der russischen Elite diese Verträge heute als Zementierung der von den Amerikanern diktierten Ordnung. Auch Putin hat sich in dieser Richtung geäußert. Russland unterscheidet sich darin von der Sowjetunion.

Die UdSSR war ein saturierter Staat, der auf den Erhalt und die Anerkennung seiner Eroberungen  seit 1945 aus war. Interventionen in den Staaten des Warschauer Paktes wie in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968 sollten den Machtbereich nicht erweitern, sondern konsolidieren. Im Gegensatz dazu ist die Eroberung und Annexion der Krim eine Ausdehnung der Russischen Föderation. Ebenso greift Russland mit der Unterstützung der Separatistenrepubliken von Donezk und Lugansk in der Ostukraine über seinen Machtbereich seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 hinaus.

Russland unterscheidet sich in noch einem wichtigen Punkt von der Sowjetunion. In der späten UdSSR boten die Ideologie und die Institutionen von Zentralkomitee, Politbüro und Partei einen Rahmen, der schnelle, unerwartete Wendungen in der Außenpolitik erschwerte. Im Politbüro gab es eine besondere Art der Kontrolle durch das Kollektiv. So gewann die Sowjetunion, der Todfeind des kapitalistischen Westens, in ihren letzten drei Jahrzehnten eine gewisse Berechenbarkeit. Sie wurde zum Verhandlungspartner für deutsche Ostpolitiker und den ganzen Westen, ob in Helsinki 1975 oder im strategischen Ausgleich mit den USA.

Unter Wladimir Putin, der viele außenpolitische Entscheidungen allein trifft, hat Russland in den vergangenen zwei Jahren die Überraschung zur Maxime gemacht. Man will nicht berechenbar sein. Russland handelt schnell, unerwartet, bisweilen eruptiv, um den so wahrgenommenen Rivalen voraus zu sein. Putin  betreibt bisweilen Außenpolitik in Hochgeschwindigkeit, auf der Krim, in der Ostukraine, in Syrien. „Mit der Annexion der Krim ist unsere Welt eine andere geworden“, sagte ein Teilnehmer des Symposiums. Es gibt also ein gegenläufiges Interesse der Russen hier, die zur Erhöhung ihrer Sicherheit nicht ausrechenbar sein möchten, und der Europäer dort, für die Sicherheit auf Berechenbarkeit gründet.

Für den Westen gibt es jedoch einige klare Anhaltspunkte, um zu verstehen, worauf die russische Außenpolitik abzielt. Mehrere Teilnehmer wiesen darauf hin: Zu den strategischen Zielen Russlands gehört, Europa und die USA dazu zu bringen, Einflusszonen um Russland herum zu respektieren. Dazu zählt die Mehrzahl der ehemaligen Sowjetrepubliken. Zur Wahrung des Einflusses sei jedes Mittel recht, wie man in der Ukraine gesehen habe. Dazu gehöre, das Prinzip der freien Bündniswahl infrage zu stellen. Im Süden versuche Russland, den Kaukasus zu kontrollieren, mithilfe von Satrapenregimen wie in Tschetschenien oder verstärkter Truppenpräsenz in Armenien oder im Nordkaukasus. Zugleich aber versteht sich Moskau als pazifische Macht und möchte auch als solche international anerkannt werden.

Mehrere Teilnehmer wiesen auf die russischen Militärreformen unter Putin her. Sie betonten die Konzentration der Truppen auf hocheffiziente Einheiten in Gegensatz zu der schwerfälligen Massenarmee, die ein Erbe der Sowjetunion war. Moskau legt Wert auf rasche Verlegbarkeit, bei neuen Truppenteilen binnen eines Monats, auf Schnelligkeit und Einsatzbereitschaft. Russland erhöht so punktuell seine konventionellen Fähigkeiten; für die grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Westen setzt es auf die Abschreckungskraft seiner nuklearen Streitmacht.

Ist eine internationale Verantwortungsgemeinschaft mit Russland möglich?

Ein Teilnehmer erinnerte an die Ausdehnung der Nato und den Gedanken einer „neuen Nato“ als Prinzip der Osterweiterung. Damals habe der Westen die Gelegenheit verstreichen lassen, zu gemeinschaftlichen Sicherheitslösungen mit Moskau zu kommen. Die Nato wurde nicht im Grundsatz erneuert, sondern sei nur modernisiert und erweitert worden. Viele Strukturen der Sicherheitsarchitektur des Kalten Krieges hätten überlebt. Der Westen habe Russland nur durch das schwache Instrument des Nato-Russland-Rates einbezogen, im Übrigen sei es außen vor geblieben.

Es gab im vergangenen Jahrzehnt, betonten mehrere Teilnehmer, eine Reihe verpasster Chancen zwischen Europa und Russland. Die Europäer nahmen russische Vorschläge für eine vertiefte Zusammenarbeit im wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Bereich nicht ernst genug. Russland ließ die europäischen und insbesondere deutschen Vorschläge einer Modernisierungspartnerschaft ins Leere laufen. Fraglich ist jedoch, ob eine stärkere Zusammenarbeit die Krise von 2014 hätte verhindern können.

Denn der russisch-ukrainische Konflikt hat seine Wurzeln vor allem in der Innenpolitik beider Länder und dem Moskauer Blick auf das nahe Ausland. Ärger über westliche Handlungen oder Unterlassungssünden waren nachrangig. Ein Teilnehmer wies mit Nachdruck auf die Sicht der russischen Regierung hin, hinter jedem Protest eine ausländische Intervention zu sehen. Das Land der russischen Revolution reagiert heute allergisch auf jede größere Bürgerversammlung, die nicht die Regierung angeregt hat. Die Unruhen am Moskauer Bolotnaja-Platz 2012 haben die Entscheidungen Putins stark beeinflusst. Der ukrainische Maidan-Aufstand wurde in Moskau als Fortsetzung „dieser von außen gesteuerten Rebellionen“ gesehen. Eine prosperierende demokratische Ukraine wäre für Moskau keine Ermunterung, sondern eine Bedrohung. Diese innenpolitische Voraussetzung russischer Außenpolitik müssen westliche Politiker kennen.

Um die Möglichkeiten besserer Nachbarschaft mit Russland auszuloten, trugen verschiedene Teilnehmer positive Beispiele für verantwortliche Kooperation zusammen.

Im Chemiewaffenabkommen für Syrien hat die russische Regierung unter Beweis gestellt, dass sie in klar definierten Bereichen zur Zusammenarbeit bereit ist. Ähnliches gilt für die jüngste Erweiterung des UN-Mandats für Libyen, die Waffenstillstandsgespräche für Nagorno-Karabach seit den Kämpfen im April 2016, und mit Abstrichen auch für die bisher wenig erfolgreichen Friedensgespräche mit den syrischen Kriegsparteien. Ein Teilnehmer pointierte, dass keiner dieser Konflikte ohne Russland zu lösen sei.

Das mit Iran abgeschlossene Atomabkommen der fünf Sicherheitsratsmächte und Deutschlands zeigt, dass Russland auch über einen längeren Zeitraum bereit ist, in bestimmten Konflikten ein guter Verhandlungspartner zu sein. Ein Blick auf die Innenpolitik hilft auch hier, um russische Außenpolitik zu verstehen. Iran war kein politisiertes Thema russischer Staatsmedien, es spielte in der russischen Innenpolitik keine wichtige Rolle.

Das war in der Ukraine leider nicht der Fall. Ein Teilnehmer bemerkte, dass Wladimir Putin durch sein Eingreifen eine „grandiose Westverschiebung der Ukraine in einen Raum zwischen  Hamburg und Liverpool verursacht“ hätte. Kein westlicher Politiker hätte das geschafft. In den Minsker Verhandlungen seit 2015 zeigt sich Russland wenig kooperationsbereit. Vor allem beim Abzug der schweren Waffen, dem ungehinderten Zugang der OSZE-Beobachter und den Voraussetzungen für die Lokalwahlen in Donezk und Lugansk bewegt sich die russische Regierung kaum. Dass umgekehrt auch die ukrainische Regierung nicht zu Fortschritten bei der Verfassungsreform und den Wahlgesetzen bereit ist, dient der russischen Regierung als Argumentationshilfe.

Im syrischen Bürgerkrieg hat Russland aufseiten des Regimes von Baschar Assad eingegriffen. Der Krieg spielt seither eine Hauptrolle in den russischen Staatsmedien, um Russlands Handlungsfähigkeit in der Welt zu demonstrieren. Mehrere Symposiumsteilnehmer stellten fest, dass Russland im „Kampf gegen den Terror“ vor allem jene Opposition bekämpft, die gegen die Regimemilizen Assads stehen, und erst in zweiter Linie die IS-Dschihadisten angreift. Infolge dessen können die Regimemilizen mit russischer Hilfe einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung im Norden Syriens führen. Der Millionenstadt Aleppo droht eine menschliche Katastrophe.

Ein Teilnehmer betonte, dass Russland das Völkerrecht als Einschränkung seiner Handlungsfreiheit begreift. Das syrische Beispiel zeige, dass Russland keine „Verantwortungsgemeinschaft“ mit dem Westen sucht, sondern vor allem eine Anerkennung seines Weltmachtstatus auf Augenhöhe mit den USA und China. Dabei erhebt Russland seine Souveränität über die anderer, kleinerer Staaten, wie ein Teilnehmer bemerkte. Man möchte sich nicht durch Verträge dauerhaft einbinden lassen, sondern die Handlungsfreiheit als Großmacht erhalten.

Welche Handlungsoptionen hat die EU, um die Beziehungen zu Russland zu nachhaltig zu verbessern?

„Der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen und ist dabei, den Kalten Frieden zu verlieren.“ Diese Warnung auf dem Symposium machte die Dringlichkeit deutlich, die europäische Politik gegenüber Russland zu überarbeiten. Nie in den vergangenen 50 Jahren sei die Kriegsgefahr so groß gewesen. Immer wieder mahnten Teilnehmer einen realistischen Blick an. Die Meinungsverschiedenheiten mit Russland würden bleiben, wir könnten nicht mehr zu der alten Lage vor Krimkrise zurückkehren. Dennoch war der Wunsch nach einem Neuanfang in den europäisch-russischen Beziehungen sehr deutlich.

Ein Teilnehmer sprach davon, dass wir einen „Reset“ brauchen. Doch wie kommen wir dahin? Das Symposium machte konkrete Vorschläge in den Bereichen Sicherheitspolitik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.

Die Nato habe Russland zwar vom Gegner zum strategischen Partner ernannt, bemerkte ein Teilnehmer, doch hätten beide Seiten diese Partnerschaft nicht ausgefüllt. Zeichen dafür sei, dass das Nato-Büro in Moskau jüngst auf nur eine Person abgeschmolzen sei. So könne man nicht mehr wirksam zusammenarbeiten. Regelmäßige und häufigere Sitzungen des Nato-Russland-Rates seien wichtig.

Bei einem Neuanfang der Sicherheitsstrukturen ist es wichtig, nicht mit der großen Architektur anzufangen, lautete eine Anregung, sondern mit konkreten Verbesserungen in bestimmen Räumen. In Ostmitteleuropa, insbesondere für die baltischen Staaten brauchen wir Regelungen, um den Krieg aus Versehen zu verhindern. Beide Seiten dürfen nicht weiterdrehen an der nuklearen Spirale. Weder darf Russland neue nuklearfähige Kurzstreckenraketen in Ostmitteleuropa stationieren noch sollten westliche Kampfflugzeuge weiter nuklear ausgerüstet werden.

Gleichzeitig müsse, so ein Teilnehmer, Russland die westliche Widerstandsfähigkeit deutlich gemacht werden. Deutschland müsse auch die begründeten Ängste seiner Verbündeten in Ostmitteleuropa ernstnehmen. Dazu gehört auch, die „gesellschaftliche Resilienz“ gegenüber möglichen Falschinformationen im sogenannten „hybriden Krieg“ zu stärken. Man müsse ein „positives Narrativ entwickeln“.

Russland und Europa sollten Räume gemeinsamer Interessen definieren, in denen sie an Sicherheit und Stabilität interessiert sind. Auch gemeinsame Interessen in der Terrorbekämpfung spielen hier eine Rolle. Genannt wurden Afghanistan, dem immer wieder der Zerfall droht, und der Nahe und Mittleren Osten, wo Russland und Europa mit den USA den IS-Terrorismus als schwere Bedrohung erkennen.

Im Bereich der Wirtschaft stellten die Teilnehmer strategische und konkrete Investitionsüberlegungen an. Die EU muss bei der Ausgestaltung ihrer östlichen Partnerschaft mehr darauf achten, dass die Länder der ehemaligen Sowjetunion mit Russland eng verflochten sind. Um wirtschaftliche Verluste zu verhindern und Streit wie im Fall des Freihandelsabkommens mit der Ukraine zu verhindern, sollte die EU die möglichen Reaktionen und andersartigen Interessen Russlands bei der Nachbarschaftspolitik rechtzeitig mitbedenken.

Russland setzt seit einigen Jahren auf die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) zur Entwicklung des postsowjetischen Raumes. Noch ist die Integration der EAWU nicht weit vorangeschritten, aber die Bundesregierung sollte ihre Vorschläge zu einer engeren Beziehung zwischen der EU und der EAWU weiterentwickeln. Die EU führt derzeit Verhandlungen mit Armenien, um die wirtschaftliche Integration mit der EU voranzutreiben, obwohl Armenien Mitglied der EAWU ist. Führen die Verhandlungen zum Erfolg und nicht zu einem Konflikt mit Russland, könnte das armenisch-europäische Abkommen Modellcharakter bekommen.

Obwohl Russland die Lebensmittelsanktionen um mehr als ein Jahr und die EU die Wirtschaftssanktionen bis Anfang 2017 verlängert hat, gibt die deutsche Wirtschaft den Standort Russland nicht auf. Ein Teilnehmer berichtete, dass Daimler mit russischen Behörden Gespräche über ein Mercedes-Benz-Werk in Russland führt.

Die Teilnehmer des Symposiums waren sich einig, dass Europa und Russland Gremien und Institutionen brauchen, die über Nato hinausweisen. Um die Zivilgesellschaften besser miteinander zu vernetzen, müssen bestehende staatliche und nichtstaatliche Organisationen für den Austausch geschützt werden, neue gegründet werden. Dabei muss Russland stets an den Sinn und Zweck von unabhängigen zivilgesellschaftlichen NGOs erinnert werden. Europa sollte sich darüber klar werden, dass die EU sich am besten darstellt, wenn junge Leute aus Russland ohne lange Visaprozeduren EU-Staaten besuchen können. Visaerleichterungen und Visafreiheit bleiben ein wichtiges Ziel im Sinne einer besseren Nachbarschaft.

Der Konsens, den die Teilnehmer auf dem Symposium herausarbeiteten, lässt sich in einer Doppelstrategie zusammenfassen. Europäische Selbstvergewisserung im politischen wie militärischen Bereich soll mit einem ernst gemeinten Neuanlauf verknüpft werden, um gemeinsame Gesprächsforen mit Russland einzurichten. Das Sicherheitsgefühl aller Nato-Mitglieder ist wichtig, um mit Russland in einen nachhaltigen Dialog über die gemeinsame Sicherheit aller Staaten in Europa eintreten zu können. Ein Teilnehmer erinnerte beispielhaft an den Harmel-Bericht der Nato von 1967, der feststellte, dass Verteidigungspolitik und Entspannungspolitik keine Gegensätze sind, sondern einander ergänzen.

Einigkeit bestand auch darin, dass die angespannte Lage, die sich in den Großmanövern der jüngeren Zeit oder in den Scheinangriffen russischer Kampfflugzeuge auf US-Schiffe in der Ostsee zeigt, eine Gefahr für die EU und Russland zugleich ist. Wir brauchen dringend einen institutionalisierten Sicherheitsdialog, um Eskalation zu verhindern. Wer allerdings hofft, Europa und Russland könnten zu den entspannteren Zeiten unter Präsident Dmitri Medwedew zurückkehren, hat den tiefgreifenden inneren Wandel Russlands und die strategischen Prioritäten Präsident Putins seit 2012 nicht verstanden. Der ukrainisch-russische Konflikt ist kein Betriebsunfall, sondern der Beginn einer neuen Ära.

Gerade deshalb brauchen wir einen Neuanfang in den europäisch-russischen Beziehungen, der den veränderten Bedingungen Rechnung trägt. Für diesen Neuanfang braucht es zwei Seiten. Die russische Regierung müsste ihr Denken in den Kategorien geostrategischer Rivalität verändern oder zumindest erweitern. Auch Wirtschaft gehört zu Stärken eines souveränen Landes. Es ist zu hoffen, dass mit der Rückkehr des Finanzexperten Alexei Kudrin in den Beraterzirkel des Präsidenten mittelfristig eine Rückbesinnung auf die strategische Bedeutung wirtschaftlicher Beziehungen stattfindet.

Die EU-Mitgliedsstaaten sollten Russland nicht ausschließlich als Bedrohung wahrnehmen und einzelne EU-Staaten nicht  verdächtigen, eine Sonderbeziehung mit Moskau auf Kosten anderer EU-Mitglieder führen zu wollen. Dazu gehört, dass gerade größere Staaten wie Italien oder Deutschland solche Sonderbeziehungen auch nicht verfolgen und entsprechend Vertrauen bei den EU-Mitgliedern schaffen. Die EU als Ganzes sollte den Dialog mit Russland erneuern und beharrlich für eine engere Zusammenarbeit werben. Die Zeit nach den gegenseitigen Wirtschaftssanktionen muss heute schon vorbereitet werden, damit die EU politisch und wirtschaftlich bereit ist, wenn die Sanktionen auslaufen sollten.

Beide Seiten sollten ihre Nachbarschaft wieder schätzen lernen und nicht als Belastung, sondern als Bereicherung anerkennen. Erst wenn man Nachbarschaft als etwas versteht, was beiden Seiten nützt, ist der Neuanfang möglich, zu dem das Walther-Leisler-Kiep-Symposium nachdrücklich aufruft.

Michael Thumann (Außenpolitischer Korrespondent, DIE ZEIT)