20. Nationalkongress in China: Quo Vadis?

Vom 16. bis 22. Oktober fand in diesem Jahr der 20. Nationalkongress der Kommunistischen Partei Chinas statt. Turnusmäßig wird alle fünf Jahre das Zentralkomitee und die Zentrale Disziplinarkommission unter Vorsitz von dem Staatspräsidenten der Volksrepublik China, Xi Jinping, gewählt. Außerdem wird der Zeitraum seit dem letzten Nationalkongress evaluiert und die programmatische Planung der nächsten Jahre vorgenommen. Aufgrund der außerordentlichen Bedeutung Chinas, sowohl für die deutsche als auch die Weltwirtschaft, veranstaltete Global Bridges kurz nach dem Kongress eine Videokonferenz zu dem Thema „20. Nationalkongress in China: Quo Vadis?“

Als Redner geladen waren Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer in China und Geschäftsführer / Generalbevollmächtigter von BASF China; Dr. Angela Stanzel, Wissenschaftlerin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP); und Felix Lee, Korrespondent beim China Table und Young Leader Alumnus von Global Bridges. Die Veranstaltung wurde von Katrin Otto, Leiterin der Marktentwicklungsabteilung China der Deutsche Börse Group und Vorstandsmitglied der China Europe International Exchange AG, moderiert.

Zu Beginn des Symposiums begrüßte Dr. Beate Lindemann, Geschäftsführende Vorsitzende von Global Bridges, die Teilnehmer und drückte ihr Bedauern darüber aus, dass der für Ende 2022 geplante XVI. Study Trip nach China aufgrund der Null-Covid-Politik auch dieses Jahr nicht stattfinden konnte. Auch dankte sie Jörg Wuttke für seine langjährige Freundschaft und die vielen Male, in denen er sowohl in Person (in Beijing) als auch virtuell die Mitglieder von Global Bridges mit viel Expertise über die Politik und Wirtschaft Chinas informierte.

Nach einer kurzen Einführung der Redner durch Dr. Lindemann und Katrin Otto begann die Diskussion: Der Nationalkongress habe gezeigt, wie gefestigt die Herrschaft Xi Jinpings mittlerweile sei. Die Art und Weise, wie der ehemalige Staatspräsident Hu Jintao aus dem Saal geführt wurde, zeige das Ende einer Ära, die Zukunft werde „kommunistischer“. Symbolisch sei auch der gemeinsame Besuch von Xi und dem Politbüro nach Yan’an, dem einstigen Zentrum der Kommunistischen Revolution während des chinesischen Bürgerkrieges, mit dem er an das Vermächtnis Mao Zedongs anknüpfen wolle.

Ein Redner bezeichnete Präsident Xi als „master politician“, der es seit Beginn seines Amtes verstand, seine Macht auszubauen und zu festigen. Im Gegensatz zu Mao Zedong habe er aber keine eng mit ihm verbundenen Berater, berufe nur Loyalisten („Ja-Sager“) in wichtige Positionen und könne darum seine persönliche Vision Chinas uneingeschränkt implementieren. Xis Rhetorik habe sich über die Jahre wenig geändert und sollte als eine „road map“ für die Entwicklung Chinas gesehen werden. Dabei betone Xi die Hinwendung zu den Zielen des Kommunismus, befürworte also mehr Gleichheit in der Bevölkerung und das Zurückdrängen von privaten Geschäftsinteressen. Er werde wohl bis ins hohe Alter Staatspräsident bleiben.

Die Moderatorin erteilte daraufhin dem nächsten Gastredner das Wort, der sich angesichts der Entwicklungen in China überrascht zeigte. Er sah in dem Beiseiteschaffen von alten Rivalen und dem zum Schweigen bringen kritischer Stimmen eine Abkehr von der Kollektivführung hin zur Diktatur. Insbesondere die Marktreformer, die unter Deng Xiaoping und späteren Regierungchefs wichtige Posten innehatten, seien nun gar nicht mehr vertreten. Diese Entwicklung sei aufgrund der Fehleranfälligkeit von durch Alleinherrscher regierten Ländern bedenklich, dies sehe man heute besonders bei Russland unter Wladimir Putin. Hu Jintao sei aus dem Saal geführt worden, da seine Reaktion auf die neue Zusammensetzung des Politbüros, in dem kein einziger ihm nahestehender Politiker vertreten war, nicht öffentlich übertragen werden sollte.

Daraufhin fiel die Diskussion auf das russisch-chinesische Verhältnis, wobei betont wurde, dass sich das Verhältnis von Putin und Xi davon unterscheide. Es gebe wichtige Parallelen zwischen Russland und China bzw. Putin und Xi. An erster Stelle stehe dabei ein ähnliches Verständnis der jüngsten Geschichte und eine ähnliche Sichtweise auf die bestehende Weltordnung. Der Zusammenbruch der UdSSR sei für beide ein Fehler der Geschichte gewesen; Xi sei durch das Verlangen geleitet, eine ähnliche Entwicklung in China um jeden Preis zu vermeiden. Die USA und ihre Verbündeten würden aus Sicht Russlands und Chinas den Aufstieg beider Länder behindern, und die bestehende Weltordnung entspreche nicht in zufriedenstellendem Maße russisch-chinesischen Interessen. Das Verhältnis zwischen den Ländern sei nie eine „perfekte Freundschaft“ gewesen, unter der Führung Putins und Xis würden aber ideologische Gemeinsamkeiten überwiegen.

Diese Haltung führe dazu, dass jegliche politischen Entscheidungen der westlichen Welt als Eindämmungsversuche wider russisch-chinesischen Interessen gesehen werden. Der Dialog mit China werde damit umso schwieriger. Diese „Paranoia“ gegenüber der westlichen Welt äußere sich u.a. darin, dass internationale Ereignisse immer in dieses Narrativ eingebettet würden. So wurde zum Beispiel der Chinabesuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in der chinesischen Presse als Ablehnung der amerikanischen (Anti-)China-Politik gewertet. Die chinesische Öffentlichkeit sei in dieser Sache von der Böswilligkeit der USA gegenüber China überzeugt.

Es wurde auf der anderen Seite auch betont, dass China die Sanktionen gegen Russland umsetze und Russland gravierende Probleme mit der Lieferunwilligkeit Chinas habe, insbesondere im Bereich der Halbleiter. Xi habe die militärischen Fähigkeiten Putins überschätzt und die Stärke des Westens unterschätzt. Mit Ausnahme der relativ ähnlichen Weltanschauung und des Anti-Amerikanismus Putins und Xis hätten die Länder nicht viel gemein; sie seien „aligned“, aber keine „allies“.

Auf die Frage ob vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine eine militärische Annexion Taiwans durch die Volksbefreiungsarmee Chinas bevorstünde antwortete ein Redner, dass es zwar in beiden Fällen Parallelen gebe, aber auch große Unterschiede. Xi sei der erste chinesische Anführer gewesen, der die Annexion Taiwans mit einem Datum verbunden habe, nämlich mit dem Jahr 2049. Dann solle Xis „chinesischer Traum“ vollendet sein, der die Annexion Taiwans beinhalte. Dementsprechend werde eine Invasion umso wahrscheinlicher, je näher dieses Datum rücke. Trotzdem sei eine kurzfristige Invasion unwahrscheinlich. Stattdessen versuche China in den letzten Jahren durch militärischen Druck, politische und wirtschaftliche Isolation und Desinformationskampagnen, die taiwanische Demokratie zu untergraben, um Taiwan auf nicht-militärischem Wege einzugliedern. Aufgrund des schon erwähnten Endes der Kollektivherrschaft könne es durch den Wegfall kritischer Stimmen im Politbüro und die Aufnahme von Ideologen anstelle von Pragmatikern jedoch zu derartigen politischen und militärischen Fehlentscheidungen kommen.

Die Diskussion fiel daraufhin auf die taiwanische Gesellschaft: Anstelle von Taiwans Kuomintang-Elite von früher, die Beziehungen zu China ausgebaut hatte und aufgrund von großangelegten Investitionen in die chinesische Wirtschaft von dem Aufstieg derselben stark profitierte, stünde heute eine immer stärker werdende Demokratische Fortschrittspartei (DDP). Diese schließe jegliche Annäherung an China aus und werde insbesondere durch die demokratisch geprägte, jüngere Generation gewählt. Diese junge Generation sei politisierter als vorherige, und der „chinesische Gedanke“, also dass Taiwaner auch Chinesen seien, werde mittlerweile abgelehnt. Es könnte im Bezug zu einer Invasion also auch der Gedanke im Raum stehen, dass sich Taiwan mit der Zeit gesellschaftlich völlig von China abkoppeln könnte und China dem nur durch ein rasches militärisches Eingreifen einen Riegel vorschieben könnte.

Dieser Sicht wurde dahingehend widersprochen, dass die Rhetorik der Volkrepublik China zwar sehr bellizistisch sei, man aber auch verstehe, dass eine Annexion nicht nur militärisch schwer bis unmöglich umzusetzen, sondern auch wirtschaftlich eine Katastrophe wäre. China ist auf taiwanische Halbleiter angewiesen. Dieser ganze Industriezweig würde also bei einer Invasion entweder selbst zerstört werden oder abwandern. Zudem hätte man es nach der Annexion mit einer feindlichen Bevölkerung von mehr als 20 Millionen Einwohnern zu tun. Eine Invasion in den Jahren nach 2030 wurde jedoch nicht ausgeschlossen.

Der Besuch von Olaf Scholz in China wurde in der Gesprächsrunde relativ positiv gesehen. Scholz hätte nach Jahren der Isolation durch Covid Xis Echokammer durchdringen können. Ein Redner betonte unter anderem, dass Scholz auch kritische Themen wie den Ukrainekrieg oder die Behandlung der uighurischen Bevölkerung in Xinjiang angesprochen habe. Der Dialog mit China, insbesondere der persönliche Dialog anstelle des Dialogs per Videokonferenz, sei unabdingbar, und obwohl der Zeitpunkt des Besuches mit Hinblick auf die Bündnispartner Deutschlands und die ohnehin schon sehr angespannte Situation in der westlichen Welt eventuell der falsche gewesen sei, habe der Kanzler doch viel aus dem Besuch machen können.

Es wurde aber auch dagegengehalten, dass dieser Alleingang Deutschlands sowohl von der deutschen Bevölkerung als auch von vielen Bündnispartnern, insbesondere von den USA, scharf kritisiert wurde. Dialog mit China sei wichtig, und die „Decoupling“-Debatte, d.h. die wirtschaftliche Abkopplung von China, illusorisch, es überwögen letztlich aber die negativen Aspekte des Staatsbesuchs. Auch vor dem Hintergrund der kürzlichen Akquisitionen Chinas in Deutschland, die u.a. knapp 25% des Hamburger Hafens beinhalten, sei es ein Fehler gewesen, China zu besuchen.

Zum oft erwähnten Thema der Abhängigkeit Deutschlands von China wurde gesagt, dass es zwar ca. 20 bis 30 Produkte gebe, die kurzfristig für Deutschland nicht ersetzbar seien, man aber durchaus an einer teilweisen Lieferkettenverschiebung nach Lateinamerika oder Osteuropa arbeiten könnte. China sei außerdem auch von Deutschland bzw. Europa abhängig, sowohl bezüglich industrieller Endprodukte als auch in puncto Technologie. Große europäische Firmen würden zwar in China bleiben wollen, mittelständische Unternehmen hingegen würden sich aber schon nach anderen Standorten in Süd- und Südostasien umschauen.

Auf die Frage eines Mitglieds, woran sich denn konkret die Ideologisierung Chinas festmache, wurde geantwortet, dass einerseits die Rede Xis, der sehr offen über seine kommunistische Ideologie und Ziele sprach, ein klares Indiz sei. Andererseits sei aber auch an den Beschlüssen des Nationalkongresses deutlich erkennbar, dass die chinesische Privatwirtschaft stark eingeschränkt werden wird, was mittelfristig zu einer Senkung der chinesischen Innovationskraft führen könnte. Auch werde Autarkie als Ziel verfolgt; dies träfe insbesondere die ausländischen Firmen in China.

Der nächste Redner verneinte die Frage eines Mitglieds, ob denn ein deutscher Krisenplan im Falle einer Invasion Taiwans bestehe, und erkannte darin ein gravierendes Problem. Ein anderer Experte bekräftigte, dass eine Invasion im nächsten Jahrzehnt unwahrscheinlich sei, man also Taiwan so lange wie möglich unterstützen müsse. Im Falle einer Invasion werde, ähnlich wie in Russland, die europäische Wirtschaft höchstwahrscheinlich gänzlich abwandern.

Die Gefahr einer chinesischen Einflussnahme in Europa auf Entscheidungsträger und die öffentliche Meinung anhand der Akquise europäischer Infrastruktur wie beispielsweise des Hafens von Piräus wurde als gering eingeschätzt. China habe nicht mehr die gleiche Anziehungskraft wie noch vor wenigen Jahren, und überhaupt sei es nur unter deutschem Druck zu der Übernahme des Hafens von Piräus gekommen. China müsse aber zu mehr Reziprozität verpflichtet werden, nicht nur in puncto Infrastruktur, sondern auch bezüglich der Marktfreiheit. Chinesische Firmen in Europa hätten immer noch große Vorteile gegenüber europäischen Firmen in China. Dies werde sich mittelfristig wegen der Entlassung von Reformern wie dem ehemaligen Ministerpräsidenten Li Kequiang auch nicht ändern.

Zum Ende wünschte sich die Moderatorin, Katrin Otto, eine Neuauflage der Videokonferenz, um noch offene Fragen zu beantworten und andere Schwerpunkte zu behandeln. Beate Lindemann pflichtete ihr bei und schlug ein Follow-Up-Treffen für Anfang April 2023 vor Sie dankte außerdem den Gastrednern und dem Publikum herzlich für ihre Teilnahme.