VI. Study Trip nach Israel und in das Westjordanland

Tel Aviv – Ramallah – Be’er Sheva – Hebron – Bethlehem – Jerusalem – Sderot

25. April bis 03. Mai 2018

I.          Einleitung

Während die Feierlichkeiten zur Gründung des Staates Israel vor 70 Jahren stattfanden, unternahm eine Delegation unseres Vereins „Global Bridges“ eine Studienreise in den Staat Israel und die Palästinensischen Autonomiegebiete. Nachdem der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, zuvor verkündet hatte, die für Muslime und Juden gleichsam Heilige Stadt Jerusalem als Hauptstadt des Staates Israel anzuerkennen, brachen in der Region erneut Proteste aus. Die vielen Begegnungen mit faszinierenden Persönlichkeiten während unserer Studienreise erlaubten uns, die Stimmungslage in einer Region kennenzulernen, in der wie nirgendwo sonst engagiert darüber gestritten wird, wie die Politik anders laufen könnte oder sollte.

II.         Die politischen Beziehungen zwischen dem Staat Israel und den Palästinensern

Es herrscht Ernüchterung. Die Verhandlungen der israelischen Regierung mit den Palästinensern, formell vertreten durch die Palästinensische Autonomiebehörde, stagnieren. Derweilen wird der Siedlungsbau in den Regionen Judäa und Samaria fortgesetzt, welcher auch in der israelischen Gesellschaft selbst umstritten ist. Der Staat Israel benötige die militärisch gesicherten Siedlungen als „Sicherheitsgürtel“, erklärte uns David Akov, Leiter für Politikforschung im israelischen Außenministerium. Zudem hätten Juden ein Recht, an ihren Heiligtümern zu beten, brachte Gershon Baskin, Gründer der Stiftung „Israel/Palestine Center for Research and Information“, vor. Andererseits beeinträchtigen die Siedlungen die Existenzbedingungen eines künftigen Staates Palästina, welcher nur dann als vollwertig erachtet werden könnte, wenn er über die vollständige Kontrolle über seine Staatsgrenzen und -territorien verfüge. Dies bedeutet Staatsterritorien, die nicht durch Siedlungen, Transportwege und Militäranlagen eines anderen Staates zerteilt wären. Mit dem Bau weiterer Siedlungen schade Israel dem Leitkonzept „Zwei Staaten“, sorgte sich Rabbi David Rosen, Direktor am American Jewish Committee, während das Alternativkonzept „Ein Staat“ ebenfalls nicht verhandelbar sei. Wesentlich für dieses Dilemma ist das Selbstverständnis Israels als jüdischer Staat. Der einstige Visionär des Staates Israel, Theodor Herzl, ersann, dass ein Staat Israel Erwiderung sein sollte auf das Minderheitendasein der Juden. Als nationales Kollektiv sollten Juden nicht mehr abhängig von der Gunst oder Missgunst anderer Herrscher sein. Sollte ein zukünftiger Staat Israel den Palästinensern das „Recht auf Rückkehr“ und rechtliche Gleichheit zusprechen, müsste sich dieser Staat Israel seinem Gründungsauftrag entsagen. Eine Debatte über föderale Staatsformen könnte helfen, findet aber in der Gesellschaft (noch) keine Zustimmung.

Die stetige Rivalität zwischen den politischen Bündnissen „Fatah“ und „Hamas“ mindert nicht nur die Verhandlungsstellung der Palästinenser gegenüber dem Staat Israel, sondern auch die Legimitation der Palästinensischen Autonomiebehörde und ihrer Institutionen. Die Palästinenser seien resigniert und frustriert, berichtete uns auch Marc Frings, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, Palestinian Territories. Dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, und seiner Regierung vertrauen sie wenig, pflichtete Propst Wolfgang Schmidt, Repräsentant der Evangelischen Kirche im Heiligen Land, bei. Derweil verschlechtert sich die Lage in der durch das islamisch-fundamentalistische Bündnis „Hamas“ besetzten Stadt Gaza, in welcher bereits 80 Prozent der Bürger auf die Hilfe internationaler Verbände (im Wesentlichen der Vereinten Nationen und der Europäischen Union) angewiesen sind, weiter. Eine defizitäre Elektrizität und Wasserversorgung begünstigt zudem Seuchenausbrüche. Eine erneute „Intifada“ wird trotz derzeitiger gewalttätiger Proteste allerdings nicht erwartet, da beide politischen Bündnisse, „Fatah“ und „Hamas“, den gegenwärtigen „Status quo“ akzeptieren und selbst äußerst autoritär agieren.

III. Die Gesellschaft im Staat Israel: Mit Leidenschaft zur Debatte

Nach dem jüdischen Kalender waren die Feierlichkeiten zur Gründung des Staates Israel am 19. April 2018, dem „Jom haAtzma’ut“, angebrochen. „Mehr als in irgendeiner anderen Gesellschaft der Welt gibt es in der israelischen Gesellschaft eine tiefe Mischung zwischen Alt und Neu, zwischen Religion und Moderne, zwischen Geist und Substanz, und vielleicht ist das gerade das Geheimnis unserer Kraft“, hatte die Ministerin für Kultur, Miri Regev, gemutmaßt, als sie die Feierlichkeiten eröffnet hatte. In den vielen Begegnungen während unserer Studienreise erlebten auch wir, dass die israelische Gesellschaft vielfach heterogen ist. Säkulare Juden folgen einer anderen Lebensweise als orthodoxe Juden. Die Stimmungslage in der Heiligen Stadt Jerusalem ist eine andere als in der Mittelmeerstadt Tel Aviv oder im Kibbuz Migwan in der abgelegenen Entwicklungsstadt Sderot am Gaza-Streifen.

In jenem Kibbuz Migwan trafen wir Nomika Zion, Gründerin der Bürgerinitiative „Other Voice“, welche uns von ihren persönlichen Kriegsleiden berichtete. Die Stadt Sderot, nahe der durch das islamisch-fundamentalistische Bündnis „Hamas“ besetzten Stadt Gaza gelegen, wird seit den gewaltsamen Aufständen der „Al-Aqsa-Intifada“ mit Raketen angegriffen. Während unserer Begegnung beklagte sie, dass die Regierung in Jerusalem mit der Blockade der Stadt Gaza die Gewaltbereitschaft anrege und dem Frieden schade. Von den zunehmenden Meinungsverschiedenheiten zwischen politisch progressiven israelischen Bürgern, die sich für eine Verständigung Israels mit den Palästinensern einsetzen, und jenen, die vehement dagegen sind und der Politik Netanyahus unterstützen, berichtete auch Yeduda Shaul, Mitgründer der Veteranenvereinigung „Breaking the Silence“. Er erläuterte uns, dass seine Vereinigung Kriegsverbrechen der israelischen Streitkräfte anprangere. Der Ministerpräsident des Staates Israels, Benjamin Netanjahu, bezichtigte die Vereinigung dagegen einer Kriminalisierung der Streitkräfte. Auch der Journalist und ARD-Korrespondent Richard Schneider, den wir in einem Restaurant im Künstlerviertel der Stadt Tel Aviv trafen, kritisierte die Vereinigung „Breaking the Silence“ dafür, dass sich ihre Vorwürfe oftmals als nicht haltbar erwiesen hätten. Er erläuterte, dass auch viele israelische  Bürger, selbst wenn sie erklärte Gegner der Besatzungspolitik seien, die Radikalität der Kritik durch die Vereinigung „Breaking the Silence“ befremdlich fänden. Immerhin sichern die Streitkräfte die Existenz des jüdischen Staates. Wir ahnten, dass es letztendlich in der Gesellschaft Israels keinen Konsens darüber gibt, was Zionismus genau bedeutet. Dieser Streit dauert bis heute an.

IV. Die Wirtschaft im Staat Israel: Technologieaffinität und Gründergeist

Die Wirtschaft Israels prosperiert. Die Wirtschaftsleistung steigerte sich im Jahr 2017 um 3,1 Prozent, die Inflation beträgt lediglich 0,4 Prozent und die Erwerbslosenquote 4,1 Prozent, d. h. es herrscht Vollbeschäftigung. Zu den besonders innovativen Wirtschaftsbranchen Israels gehört die Technologieszene. Der Staat hat nur 8,5 Millionen Einwohner. Und dennoch haben Bürger dieses Staates 94 Gesellschaften an die Börse NASDAQ gebracht, proportional mehr als jeder andere Staat außer den USA und der Volksrepublik China.

Faszinierend war für uns die Führung durch den Gewerbecampus „CyberSpark“, der sich in der staubigen Wüste Negev gelegenen Stadt Be’er Scheva befindet. Angesichts des Förderprogrammes „Israel Initiative ii2020“, mit welchem verschiedenartige Wirtschafts- und Kompetenzzentren („Business Cluster“) gegründet und gefördert werden, ist dieser Gewerbecampus entstanden und wird stetig erweitert. Der Fokus liegt auf der Sicherheitstechnologieszene, andere Wirtschafts- und Kompetenzzentren richten sich explizit auf die Automatisierungs- oder die Agrartechnologieszene. Für uns repräsentierte der Gewerbecampus die professionelle Zusammenarbeit zwischen Militär, Wirtschaft und Forschung. Während in Europa die Zusammenarbeit zwischen universitärer Forschung und Militär misstrauisch betrachtet wird, fördert der Staat Israel sie hier ausdrücklich gefördert. Demnach soll in den Gewerbecampus bald auch die elitäre, dem Militärnachrichtendienst unterstellte, „Unit 8200“ verlegt werden. Das Wirtschaftsmagazin „Business Insider“ nannte sie „die beste Hightech-Schule der Welt“. Der Staat Israel fördert die Ansiedlung von Wirtschaftsbetrieben zudem mit Steuersubventionen. „Eine Gesellschaft, die sich hier ansiedelt, spart aber nicht nur Geld“, erläuterte uns Zafrir Levy, Angestellter der Technologiegesellschaft BGN Technologies Ltd. „Sie profitiert auch vom Wissen der Studenten und der Veteranen der Hightech-Einheiten.“

Einen Gründer, der mithalf, den Ruf des Staates Israel als „Startup Nation“ zu etablieren, lernten wir in Jerusalem kennen. Mit seiner Gesellschaft „Jerusalem Venture Partners“ (JVP) sammelte Erel Margalit mehr als eine Milliarde US-Dollar, gründete mehr als 100 Gesellschaften, vornehmlich in der Digitalisierungsindustrie, und platzierte allein 12 Gesellschaften an der Börse NASDAQ. Getreu seinem Lebensmotto „Yallah!“ („Vorwärts!“) möchte er die Schaffung mehrerer Wirtschafts- und Kompetenzzentren in Küstenstädten entlang des Mittelmeers, von der Metropolregion Kairo bis zur Katalanenstadt Barcelona, antreiben. Dabei vertraut er auf die Zusammenarbeit mit Regional- Kommunalpolitikern, da sie pragmatischer und progressiver agieren könnten als nationale Mandatsträger. Dahingehend blieb nach unserer Begegnung mit Erel Margalit die hoffnungsvolle Zuversicht, dass, wenn nationale Staatsregierungen und internationale Verbände die Konflikte der Region nicht befrieden könnten, es derartige visionäre Gründer sein könnten, die den gegenwärtigen „Status quo“ von unten aufbrechen und politische Reformen erzwingen könnten.

Auch in diesem Jahr erwies sich der Study Trip to Israel and the West Bank mit seinen spannenden und hoch-informativen Begegnungen wieder als Highlight im Global Bridges-Veranstaltungskalender.

Fabian Kissing