Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft – Ein Erfolg?

25. Februar 2021

Bereits im letzten Jahr hatten wir geplant, nach Brüssel zu reisen, um Einblicke in die Arbeit der Europäischen Union zu erhalten. Aufgrund der Coronapandemie musste die Reise leider verschoben werden und wir haben uns wieder einmal nach Brüssel gezoomt. Zum Auftakt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft konnten wir im Juni 2020 David McAllister gewinnen, der uns über die Herausforderungen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vorgetragen hat. Am 25. Februar 2021 hatten wir nun die Chance, mit Dr. Katarina Barley, seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und dessen Vizepräsidentin, die Bilanz des zurückliegenden halben Jahres zu ziehen. Moderiert wurde die Veranstaltung von unserem Mitglied Dr. Daniel W. Bloemers.

Rückblick auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft

„Die Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft waren im Vorfeld überbordend“, begann Dr. Katarina Barley ihren Vortrag. Aus ihrer Sicht lag das hauptsächlich am Zeitpunkt. Zum einen war die vorherige Ratspräsidentschaft durch die anhaltende Konstituierung der Europäischen Kommission weitestgehend ergebnislos geblieben, zum anderen fielen wichtige Verhandlungen, wie die Abschlussverhandlung des BREXIT und des mehrjährigen Finanzrahmens sowie die Coronakrise in die Zeit der deutschen Ratspräsidentschaft. Besonders die Coronakrise zeigte „unter dem Brennglas“ so Katarina Barley die Stärken und Schwächen der Europäischen Union auf – zu Beginn nationale Alleingänge, aber dann schnell entstehende Kooperationen bezüglich Auf- und Übernahme von Patienten über Grenzen hinweg und Impfstoffbeschaffung . Gerade bei letzterem Thema sei die Bilanz gemischt, was mit der Kompetenzverteilung im Gesundheitsbereich zusammenhänge.

Den mehrjährigen Finanzrahmen betreffend hätte es gar nicht so sehr eine Erwartungshaltung gegenüber der deutschen Ratspräsidentschaft gegeben, sondern viel mehr Angst vor den Konsequenzen, sagte Katarina Barley. Gerade bei den Staaten, die besonders stark von der Coronakrise betroffen waren und „die Finanzkrise noch in den Knochen hatten“, war die Angst besonders ausgeprägt. Der deutsch-französische Vorschlag, Kredite zur Verfügung zu stellen, die nicht zurückgezahlt werden müssen, wurde besonders in diesen Staaten mit „Erleichterung und, wenn auch keine politische Kategorie, Dankbarkeit“ aufgenommen.

Ein Punkt, auf den Frau Dr. Barley als Abgeordnete und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments besonders stolz war, war der eingeführte Rechtsstaatsmechanismus, der ein Rechtsstaatsmonitoring durch die Europäische Kommission und eine jährliche Prüfung der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorsieht. Der Mechanismus sei zwar nicht so stark, wie das Parlament es gefordert hätte – so werden nur Verstöße erfasst, die das EU-Budget betreffen, aber Dinge wie Minderheitenschutz nicht –, aber ohne Parlament wäre er wohl gar nicht gekommen. Unter dem Strich stärke der beschlossene Rechtsstaatsmechanismus Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union, der die Rechtsstaatlichkeit betrifft, entscheidend und ist einer der größten Verdienste der deutschen EU-Ratspräsidentschaft.

Als weitere bestimmende Punkte der Ratspräsidentschaft nannte Katarina Barley neben der Verabschiedung eines gemeinsamen Transparenzregisters für alle drei europäischen Institutionen und die erneuten Russlandsanktionen im Zusammenhang mit dem Fall Nawalny auch das BREXIT-Abkommen. Letzteres ist „OK für die Europäische Union und schwieriger für das Vereinte Königreich“. Als größte Probleme, aus Perspektive der Europäischen Union, schätzt Barley die Nordirlandfrage sowie das Level Playing Field in Bezug auf gleiche Standards für den EU-Binnenmarktzugang ein. Die Qualitätsstandards sind nämlich an den Status Quo geknüpft und eine künftige Verschärfung in der EU überträgt sich nicht zwangsweise auf die Standards im Vereinten Königreich. Gegen zu starke Abweichungen auf britischer Seite habe die EU zwar die Möglichkeit zu reagieren, dies werde aber fast zwangsläufig zu komplexen rechtlichen Auseinandersetzungen führen.

Im Rückblick bewertete Katarina Barley zwei Punkte negativ in der deutschen Ratspräsidentschaft. Zum einen die Conference on the Future of Europe, die keine echte Bürgerbeteiligung vorsehe und generell „blockiert an der Seitenlinie stand“. Zum anderen das große Thema China, das eigentlich ein roter Faden der Ratspräsidentschaft sein sollte, aber durch die Coronakrise diese Rolle nicht einnehmen konnte. Den Abschluss des EU-China Investitionsabkommens beurteilte Frau Barley als in Ordnung. Ein Investitionsabkommen sei kein Handelsabkommen und hätte einen deutlich limitierten Anwendungsbereich. Zudem seien die Verpflichtungen, die China eingegangen ist, sehr bemerkenswert.

Zusammenfassend stellte Katarina Barley aber fest, dass die deutschen EU-Ratspräsidentschaft ein Erfolg war und den Erwartungen gerecht geworden ist.

Digitalisierung – EU als wertebasierter Vorreiter

Aufgrund von Fragen der Teilnehmer wies Frau Dr. Barley darauf hin, dass auf der politischen Ebene ein „sense of urgency“ deutlich zu spüren sei, der „auch nicht nur ein Lippenbekenntnis ist, sondern sich auch bei der Mittelallokation zeigt“. In der klassischen Realwirtschaft leide man noch unter den Versäumnissen der Vergangenheit, die auch den „sense of urgency“ zu trüben scheinen. Darüber hinaus sieht Katarina Barley vor allem die Entschlossenheit gegenüber China, die mit ihrem 17+1 Format eine gemeinsame europäische Position durchbrechen, als Schwachstelle im Wettbewerbsbewusstsein.

Auf der anderen Seite hat die Europäische Union die Digitalisierung schon länger als Wettbewerbsfeld erkannt und hat mit der Datenschutzgrundverordnung etwas erarbeitet, das in über 70 Staaten fast unverändert übernommen worden sei, darunter Kalifornien, Standort des Silicon Valley, so Barley. Sie sieht den Vorteil der Europäischen Union darin, einen wertebasierten Ansatz zu verfolgen, weder volle Monetarisierung, wie in den USA, noch Überwachung, wie in China.

Die Vorreiterrolle der EU in diesem Gebiet zeigt sich auch in der Arbeitsweise des Europäischen Parlaments. Arbeiten sei grundsätzlich hybrid möglich, sogar die Abstimmungen und Meldungen im Plenum und in den Ausschüssen funktionieren remote.

Die EU im Zwiespalt zwischen äußerer Wettbewerbsfähigkeit und innerer Akzeptanz

Frau Barley gab zu bedenken, dass man nicht pauschal von einer europafeindlichen Haltung in der Bevölkerung sprechen könne und das Bild ohnehin sehr differenziert sei. Beispielsweise sei die polnische Regierung nicht besonders europafreundlich, die Bevölkerung aber doch. Zudem könne es auch sein, dass Gradmesser wie die Wahlbeteiligung an der Europawahl in die Irre führen, weil sie auf nationale Probleme hindeuten statt auf europäische; sie skizzierte dies am Beispiel Tschechiens.

Die Ansätze sind vielfältig, so Katarina Barley. Erasmus+ würde beispielsweise das europäische Bewusstsein und den europäischen Zusammenhalt stärken und kluge Social Media Kampagnen würden die Wahlbeteiligung steigern.

Das Projekt EU steht an einer Weggabelung, betonte Katarina Barley, und der wachsende Einfluss europakritischer Parteien könne in nächster Zukunft zur Zerreißprobe werden. Die Phase, in der Regierungsbeteiligungen von national-konservativen Parteien, wie beispielsweise der FPÖ in Österreich, für Empörung sorgten, sei vorbei. Die Rechtsstaatskonditionalität, die während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft beschlossen wurde, sei ein „großer Schritt in die richtige Richtung, aber wir sind noch nicht am Ziel“, schloss Frau Dr. Barley.